Das Wurstland am Ostbahnhof

Wurstland Imbissbude Ostbahnhof. Foto: Ania Kozlowska

“Zwei Leute am Tisch sind ein Wohnzimmer”

Gut drauf, braun gebrannt und immer einen Spruch parat: Das ist André. Er ist Bahnhofsliebhaber und sein Reich ist das Wurstland, ein mobiler Wurst-Imbiss, Ausgang Sonntagsstraße am Ostbahnhof. Die kleine Bude wirkt wie ein zartes Pflänzchen, das sich zwischen den Betonkacheln des Bahnhofs hervorgekämpft hat.

Bis 2006 gab es noch viele Buden dieser Art, dann wurden sie verdrängt, durch den Umbau der großen Bahnhofshalle und die Eröffnung neuer Fast-Food-Filialen und Kioske. Nur das Wurstland hält sich bis heute tapfer, es ist der letzte Zeuge.

André lädt mich zu sich hinter die Theke ein. Erstmal Kaffee. Wir kommen schnell ins Gespräch – denn wir sind beide Vegetarier.

“Das ist ein Running Gag hier! – Dabei hasse ich Vegetarier. Das Schlimmste ist das Gequatsche. Nenn dich nicht Vegetarier, sag einfach, du bist CO2-freundlich! Man verändert von der Mitte aus viel mehr, als wenn man nur von außen darauf rumhackt. Ich arbeite unmittelbar mit den Leuten zusammen und weiß, wo das Fleisch herkommt, ohne mein Ego über die Tradition zu stellen. Denn eine Wurstbude ist einfach Tradition: Der Dialekt, die Sprüche – das gehört alles dazu!”

Aber dann weißt du ja gar nicht, wie die Wurst schmeckt?

“Ja, aber das ist doch gut, das ist Objektivität! Es geht nicht um mein Ego, es geht darum, ob es den Kunden schmeckt. Und hier kommt ein Freigeist – Anita!” André winkt Richtung Ausgabe.

Eine ältere Frau kommt zum Stand, sie hat eine Mütze auf und einen Trolli dabei. Ob sie noch Zähne im Mund hat, kann man nicht erkennen, ihre Aussprache ist entsprechend undeutlich, aber sie lacht. 

“Anita will immer Kohle, früher hab ich ihr die gegeben, aber jetzt hab ich drei Kinder. Jetzt nimmt sie immer meine Mitarbeiterinnen aus. Sowas gibt’s nicht im Reformhaus. Anita, was ist? Kaffee?”

“Wu-u-u-rst!”, stammelt die Frau.

“Wurst? Heute sprichst du nicht so viel, wa.”

“Bitte ne Wieeeener, ohne alles”, fügt sie hinzu und kichert vor sich hin.

“Also: Casa Blanca, ein weißes Häuschen. So nennt man eine Wiener ohne alles, ohne Brötchen und Sauce. Süß oder? Und das ist schon so alt, seit 80 Jahren gibt es diese Bezeichnung! Die Liebe zur Einfachheit. Annie, bezahlste?”

“Ich kann niiiicht.”

André lacht: “Wie hab’ ich mit der schon gelacht! Also mit ihr. Dazu gibt es auch eine gute Story. Es ist also Sommer und da stehen hier vorne so ein paar Leute zum Mittagstisch und auch so ein Anwalt ist dabei. Die winken einem immer nur zu und sagen so ‘mach ma, mach ma’ und telefonieren weiter. Der Typ neben Anita ist also voll beschäftigt und konzentriert und dann zuppelt Anita so an seinem Anzug. Und beim Bezahlen sagt sie so zu ihm: ‘Du bist aber auch ein Süßer, wa.’ Der hat geguckt! Wir lagen auf dem Boden vor Lachen.”

Anita nimmt es sich nicht, mich auch noch nach einem Fünfer zu fragen, bevor sie geht. Dann gibt sie André tatsächlich noch einen Euro für die Wurst. Im Gegenzug dreht er ihr noch eine Zigarette.

Wie bist du darauf gekommen, eine Wurstbude am Ostbahnhof aufzumachen?

“Wenn du in Berlin aufwächst, hast du schon als Kind mit Bahnhöfen zu tun. Man weiß einfach: Da trifft sich alles unmittelbar. Es ist ein Culture-Clash. Und wenn die Stadt als Organismus gilt, dann ist das die Vene, die alles am Laufen hält. Mein erster Job war Inventur an Kiosken an Bahnhöfen. Die Unterschiede im Sommer und Winter – also die Jahreszeiten auf dem Bahnhof – haben mich immer schon interessiert.”

Und warum Wurst?

“Rest in Peace, Papa – aber der hat gesagt: ‘Ne Woscht essen sie immer.’ Mein Vater war auch schon ein Bahnhofsmensch. Und als ich 25 Jahre alt war, habe ich mir diese Bude geholt, davor hab ich zwei Jahre bei Ditsch gearbeitet und habe gespart. Ich wusste, dass das Ostkreuz lange Berlins größte Baustelle bleiben wird und somit bleiben auch die Kunden und Bauarbeiter. Der Klassiker der Ketwurst ist aber an der Schönhauser, die haben mir ihren Ritterschlag gegeben. Die essen auch hier bei mir und ich esse bei denen die vegetarische.” 

Wie würdest du deine Kunden beschreiben? 

“Es mag von außen her chaotisch aussehen, aber ich hab 80 Prozent Stammkundschaft. Ich stehe schon 20 Jahre hier – manche sind wie meine eigenen Kids, ich hab schon deren Einschulung mitgemacht. Die kaufen zwar nichts, wohnen hier aber alle um die Ecke. Die Kundschaft ist also wild gemischt, auch sehr international. Denk an den Anwalt, den Bauarbeiter und dann Anita. So ist das. Und zwei Leute am Tisch sind ein Wohnzimmer. Dann halte ich die Klappe, setze mich hin und höre zu.”

André bedient zwischendurch. “Haben Sie eine Serviette?”, fragt die Frau. André reicht ihr eine. Weder Deckel noch Servietten stehen draußen, weil er nicht möchte, dass die Menschen unnötig Müll fabrizieren:

“Ich serviere warmes Essen für 1,90 Euro und alles was man dafür braucht, ist eine Serviette. Oben ist alles verpackt, selbst für 80 Cent! Ich werde jeden Tag frisch beliefert und brauche kein Tiefkühlen. Dieses Jahr will ich meine Kunden noch von den Pappbechern wegbekommen. Zu den Kaffeedeckeln sag ich auch nur Plastik, damit es den Leuten bewusst wird.”

Was liebst du am meisten an deinem Job?

“Das Schönste ist die Kultur und das Einfache. Es entstehen keine Fragen, die Leute kommen lächelnd und gehen lächelnd. Was will man mehr! Und man kennt sich: Ich kenne nicht nur meine Kunden, sondern auch meine Bäcker und meine Metzger von früher. Mit meinem Metzger bin ich zur Schule gegangen, der war damals schon ein korrekter Typ. Wir vertrauen einander, die haben auch keinen Bock auf Geschmacksverstärker. Das zwischen den Menschen ist für mich echte Kultur. Und Kultur kann eben auch einen Geschmack haben.”

Darfst du also für immer am Ostbahnhof bleiben?

“Das ist eine unangenehme Frage, weil sie nicht geklärt ist. Deshalb sag ich einfach immer: Daumen drücken! Die Bude passt aber gut zu Bauarbeiten und die Bahn ist auch gerne Kundschaft – und nach 20 Jahren… an dem Platz, wo ich grade stehe, würde ich gerne mal was Schönes hinstellen.”

Und was nervt dich hier am meisten?

“Die drei Plakate von Elitepartner gegenüber. Du sitzt hier – alt und hässlich – und die verlieben sich alle elf Minuten. Die gaffen mich seit einer Woche schon an, ich kann die nicht mehr sehen.”

Hast du noch einen letzten guten Spruch für mich?

“Einmal hatte ich eine Domina aus Kalifornien hier, eine Schwarze. Und sie fragte, ob es denn warm sei, also die Wurst. Die konnte Deutsch, gehört wohl zu ihrem Domina-Ding. Und ich meinte dann: Die Wurst ist heiß, wie ein alter Weiberarsch! Das ist das 20er Jahre Berlin. Ist der nicht Kult!”