21. November 2019
Serafin DingesOstkreuzungen
Montags vor Sonnenaufgang ist der Nahverkehr in Berlin zwischen den Welten versunken: Nicht mehr ganz Wochenende, noch nicht ganz Arbeitswoche, trifft man hier die, die mit dem Feiern noch nicht ganz aufgehört haben und dort jene, die mit dem Arbeiten schon früh anfangen.
Um 5.30 Uhr steige ich Rathaus Neukölln in die U7. Eine junge Frau mit kurzen dunklen Haaren geht den Gang zwischen den Sitzen auf und ab und murmelt in sich hinein. Außer mir sitzen noch drei Männer im Wagen verteilt – alle drei tragen Malerklamotten. Der mir auf der anderen Seite des Ganges am nächsten Sitzende liest in einem breiten Buch namens “Deutsche Geschichten”. Die Frau bleibt vor einem von ihnen stehen und bittet ihn, die Polizei zu rufen. Er fragt warum, sie sagt, sie sei verletzt, spricht von einer zwölfköpfigen türkischen Großfamilie, aber ihre einzelnen Worte wollen sich zu keinem Sinn zusammenfügen. Sie lacht laut auf und dreht sich wieder um, hat das Interesse an der Situation verloren. Sie geht auf und ab, entfernt sich, dreht sich um, kommt zurück, bis sie auf dem Gang vor mir zum Stehen kommt. Aus ihrer Tasche holt sie einen dünnen lila Gürtel hervor und fädelt ihn durch eine der grauen Schlaufen, die zum Festhalten an den Stangen über uns hängen. Sie formt eine weitere Schlaufe aus dem Gürtel, schaut mich an und reckt dann ihren Kopf durch den Gürtel, der so zum Strick wird. Der Mann, schon lange nicht mehr auf sein Buch fixiert, springt auf, ich auch. Die Frau lacht, zieht ihren Kopf aus der Schlinge. Wir stehen alle drei regungslos da. Inmitten unserer Bewegungen stecken wir fest. Keinem von uns scheint eine Reaktion einzufallen, die der Absurdität der Situation gerecht wird.
“Bin ja keine Schlaftablette”
Als Ende der Bahnhofshalle Ostkreuz dient der Schlund einer McDonald’s-Filiale, die 24 Stunden geöffnet hat. Hier befindet sich auch die einzige Toilette des Bahnhofs, benutzen darf sie aber nur zahlende Kundschaft. Mehdi, der an der Theke arbeitet, ist seit vier Uhr wach: “Bin ja keine Schlaftablette.” Ob die Leute freundlich sind? “Nee.” Er arbeitet trotzdem gerne um diese Uhrzeit, es ist ruhiger, und alle bleiben für sich. Außer Freitag, Samstag, Sonntag, da ist zur selben Zeit die Hölle los.
Tritt man aus der McDonald’s-Filiale, breitet sich vor einem der graue, moderne Bau der Station aus. Große Glasfassaden, Boden aus blau-grauen Platten. Links und rechts fährt die Berliner Ringbahn. Entlang der Halle befinden sich Treppen nach unten zu acht weiteren Bahnsteigen. Es ist halb sieben und alle paar Minuten speit einer der grauen Aufgänge eine Schar von Pendler*innen aus, die sich aus dem Berliner Umland von hier in die Stadt verteilen. Geradeaus und zwischen den Menschenströmen durch, einigen harten Schultern ausweichend, findet man in der Mitte der Halle zwei Bäckereien. Sie stehen sich direkt gegenüber. Das Backwerk hat seit fünf Uhr geöffnet, Le Crobag seit vier. Beide sind so voll, dass die Belegschaft kaum Zeit hat, auch nur eine Frage zu beantworten. Immer wenn sich die Schlange dem Ende zuneigt, kommt ein neuer Zug an und bringt Kundschaft mit.

Der Sonnenaufgang war für 6.33 Uhr angekündigt, tatsächlich ist es um diese Zeit aber noch immer stockdunkel – der trübe Himmel taucht die Bahnhofshalle durch die große Glasfassade in ein schummriges Licht. Die meisten Menschen sind alleine unterwegs, kaum jemand spricht. Viele stehen, die Augen in die Ferne gerichtet, auf dem Bahnsteig und sehen aus, als wären sie gedanklich noch im Bett. Wenige bleiben länger hier als zehn Minuten. Die Figuren, die hier mehr Zeit verbringen, kommen einem, wenn man länger hier ist, wie alte Bekannte vor. Über den Bahnhof verteilt stehen insgesamt zehn Mitarbeiter*innen der Deutschen Bahn. In Zweiergruppen schlendern sie über das Gelände, leicht erkennbar an ihren Warnwesten mit der Aufschrift “Im Auftrag Ihrer Sicherheit”. Ich frage zwei von ihnen, wie lange sie heute schon arbeiten. “Darüber gebe ich Ihnen keine Auskunft.” Was für Fragen die Leute so haben? “Darüber gebe ich Ihnen keine Auskunft.” Etwas weiter, unaufgeregt an das Geländer hinter ihnen gelehnt, steht ein weiteres Zweierpaar. Sie arbeiten seit sechs Uhr. Gefährlich sei es hier nicht, auch wenn so viel Sicherheitspersonal anwesend ist. “Die meisten wollen einfach nur wissen, wie sie zu ihrem Gleis kommen.” Um das Sicherheitsgefühl besonders zu betonen, haben sie einen Schäferhund dabei. Viele wollen ihn streicheln, aber einem Diensthund sollte man nicht zu nahe kommen. Auch ich stehe zu nah dran, wird mir gesagt. Ihre Namen wollen mir die beiden nicht verraten, auch nicht warum. Der Hund jedenfalls heißt Matrix.
Wie viele Pendler*innen, verlasse ich um sieben Uhr den Bahnhof über eine der vielen Treppen nach unten in Richtung Friedrichshain. Der Himmel wird langsam etwas heller, die Nacht steckt in den letzten Zügen. Eine, die den Tag freundlich grüßt, ist Dagmar. Sie stellt sich als “Daggi” vor, während sie hinter der Theke des Imbisswagens “Wurstland” routiniert Würste an einen Ständer hängt. Sie ist seit fünf Uhr hier, seit zwei Uhr wach und genießt die Arbeit sehr. Betrunkene kämen um die Zeit meistens nicht mehr. Ihre Hauptkundschaft sind Schichtarbeiter, die sich nach ihrer Arbeit noch eine belohnende Ketwurst holen. An dem kleinen Stehtisch vor dem Imbiss stehen zwei rauchende Männer und schweigen gemeinsam.
“Verkäuferin gesucht. Freundlich bis Frech”
Dagmar arbeitet seit zwölf Jahren hier, hat also den gesamten Umbau des Bahnhofs miterlebt. Lange Zeit wurde das verfallene Gebäude abfällig “Rostkreuz” genannt, bis 2018 – nach 12 Jahren Umbau – die Bauarbeiten am Gebäude beendet wurden. Ein neuer Bahnhof, der schnell seinen Glanz verloren hat, steht nun zwischen zwei von Baugittern umsäumten Vorplätzen, die 2020 fertiggestellt werden sollen. Dann wird es auch endlich wieder eine öffentliche Toilette auf dem Bahnhof geben.
Das Wurstland musste während der Arbeiten alle paar Monate an eine andere Stelle am Ostkreuz umziehen. Aber jetzt, wo für den Bahnhof ein neues Kapitel beginnt, endet ein anderes für Dagmar – bald ist für sie Schluss. Angesprochen auf die Stellenanzeige am Wagen (“Verkäuferin gesucht. Freundlich bis Frech”), strahlt sie vor Freude. In ein paar Monaten fliegt sie nach San Francisco zu ihrer Schwester. Und dort bleibt sie dann erstmal.
Um 7.33 Uhr gehen die Straßenlaternen aus, der Bahnhof füllt sich jetzt mit Leben und gewinnt an Freundlichkeit. Vor allem Wellen von Schüler*innen auf dem Weg in die Schule füllen die Halle mit einem Meer von Gesprächen. Zwei Mädchen sitzen auf einer Bank und machen lachend Selfies. Matrix ist nirgends mehr zu sehen und der Bahnhof reckt sich, macht die ersten langsamen Schritte dem Tag entgegen.
Dieser Text ist im Seminar “Reportage” unter der Leitung von Georg Löwisch entstanden.