01. December 2019
Nils ErichWo die Milch herkommt

Man geht um die Ecke, und schon ist die Welt eine ganz andere: In Berlin-Rudow produziert Familie Mendler bis heute Milch – und bedient damit eine überraschende Zielgruppe.
So schmeckt also frische Milch: fett und rahmig, nach Butter und Sahne. Langsamer als sonst schwappt die tiefweiße Flüssigkeit im Becher. Es ist ein vollmundiger Geschmack, der dafür sorgt, dass sich schon bei Sonnenaufgang eine Schlange vor dem Laden des Milchhofs Mendler bildet.
Die Geschichte der Milch beginnt zwei Stunden früher, um fünf Uhr morgens: Über den Koppeln und Wiesen der Mendlers, draußen hinter den letzten Wohnblöcken Rudows, wabert der erste Nebel des Morgens. Die Nacht läge friedlich über dem Bauernhof, durchdrängte nicht das beständige Rauschen vom Flughafen Schönefeld und der A113 die Dunkelheit. Im menschenleeren Hofladen, angeschlossen an das Wohnhaus, grellt weißes Licht. Dahinter liegen zwei Pferdeställe und zwei für die gut 60 Kühe.
Es ist Herbst und so kalt, dass die Finger ohne Handschuhe steif werden. Wärmer ist es im Kuhstall. In einer langen Reihe von Gattern warten knapp 30 Kühe darauf, gemolken zu werden. Rotbunte, Schwarzbunte, Fleckvieh, Belgier: Alle möglichen Kuhsorten sind hier vertreten. Es riecht nach Ammoniak und frischem Heu. In einem schmalen Gang hinter den Kühen läuft Tobias Mendler auf und ab, schließt Melkmaschinen an ein Rohr an, das den ganzen Raum durchläuft und in der Wand verschwindet. Dann hält Tobias die Schläuche der Geräte an die Zitzen, mit einem Zischen saugen sie sich fest. Schon fließt die Milch im klackernden Takt der Maschinen.
Wenn die Kühe fertig sind, nimmt Tobias die Melkmaschinen ab und legt sie anderen Kühen an. Er trägt Gummistiefel, grüne Latzhose, darüber einen dezent verdreckten Kapuzenpulli. Der 26-Jährige holt einige Baguettes aus Kisten mit alten Backwaren, bricht sie in zwei oder drei Teile, verfüttert sie in einem kleinen Seitenstall an Kühe und einen braun-beigen Bullen mit lockiger Blesse. Der Bulle wirft seinen Kopf nach oben, Tobias krault ihm mit beiden Händen die Kehle. Einen Namen hat der Bulle nicht, den bekommen nur wenige Tiere.

Während Tobias Mendler die Kühe melkt und die Bäume hinter den Feldern Konturen annehmen, erwacht der ganze Hof zum Leben. Tobias’ Onkel Joachim Mendler fährt mit dem Traktor frische Heuballen zu den Ställen. Reitstallmeister Dominik Samter führt die gut 60 Pferde auf die Koppeln, immer zwei oder drei auf einmal. Die ersten Hühner begackern ihre erfolgreiche Eierlegerei, zwei Katzen laben sich am Katzenfutter.
Auch die Mendlers nehmen sich nun eine Frühstückspause. Seit 1982 wirtschaften sie in Rudow, erzählt Joachim Mendler bei dünnem Kaffee und Wurstbrötchen. Auch er trägt grüne Latzhose und Gummistiefel. Dazu: kurze graue Haare, kräftige Hände und lockere Schnauze. Damals, in Schöneberg, hielten sie als letzte Bauern Berlins noch Kühe im Hinterhof und Schweine im Keller, sagt er. Bis Sanierungen anstanden, die Mendlers einen neuen Hof am Rudower Stadtrand aus dem Boden stampften und mitsamt dem Vieh dorthin umzogen.
Joachim Mendler bewirtschaftet nun die etwa 60 Hektar Land und kümmert sich um die Tiere. Verkauf und Buchhaltung liegen in Georg Mendlers Händen. Das ist Joachims Bruder und Tobias’ Vater. Tobias arbeitet mit. “Frei hat man eigentlich nicht. Hier ist sieben Tage die Woche Arbeit“, sagt Tobias. “Auch, wenn man krank ist.“ Denn Tiere brauchen Pflege und Aufmerksamkeit, jeden Tag Futter, ab und zu einen Arzt.
Gegen sieben Uhr: Der Nebel wird dichter, die farbigen Blätter an den Bäumen schälen sich aus der Dunkelheit. Im Hofladen bereitet Verkäuferin Petra Schröder die Kasse für den Verkaufstag vor, zählt das Kleingeld. Neben der Milch bekommt man im Hofladen Fleisch von Rind und Geflügel, Wurst, Kürbisse, Kohl, Äpfel. Ein Kilo Rindsbraten: Aktuell 16 Euro. Filet: 53 Euro, Suppenfleisch für einen Zehner. Die Milch kostet 1,10 Euro je Liter.

Foto: Nils Erich
Während die Sonne goldene Strahlen gegen die Baumwipfel wirft, trudeln die ersten Gäste ein. Schnell stehen sie Schlange vor dem winzigen Hofladen, Petra Schröder zapft Milch im Akkord. Mit 15 Litern Rohmilch, abgepackt in großen Plastikflaschen, verlassen Mustafa und Ayse aus Neukölln den Laden. Dabei hält die frische Milch sich doch nur ein paar Tage. Ob sie das alles selbst trinken? – “Nein“, sagt Mustafa und lacht, “wir machen Joghurt daraus!“
Joachim Mendler spricht darüber so: “Es ist eben viel, dass wir so ausländische Kundschaft haben, die holen da gleich etliche Liter, sag ich mal, und die machen denn ihren Käse und Joghurt, von ihrem Rezept, was sie von zu Hause haben.“ Auch, wenn der Ausdruck “ausländische Kundschaft“ vielleicht unangemessen ist bei Menschen, die in zweiter oder dritter Generation in Neukölln leben: In Berlin scheint sich die Kulturtechnik, die Milch eigenhändig zu verarbeiten, eher in migrantischen Gemeinschaften erhalten. So steht auf einmal die halbe Welt auf Mendlers Türschwelle. Möglich ist das vielleicht nur, weil hier die Internationalität einer europäischen Metropole auf den ländlichen Raum trifft.

An guten Tagen setzt der Hofladen mehr als 500 Liter der Rohmilch ab, zeigt Petra Schröder in den Aufzeichnungen. Die Direktvermarktung ihrer Produkte erlaubt den Mendlers, in kleinem Maßstab zu wirtschaften – der Gewinn bleibt nicht bei Zwischenhändlern und Discountern hängen. Dazu kommen Hoffeste, die lukrativere Pferdehaltung, gelegentlich Dreharbeiten für verschiedene Serien.
Tobias Mendler hatte schon als kleines Kind einen “Bulli“. Der wog 1700 Kilo, ließ Tobias auf seinem Rücken reiten und verteidigte ihn auch mal vor aggressiven Mutterkühen. Tobias lächelt, wenn er von seinem Lieblingsbullen erzählt. Das Lächeln verschwindet, wenn er über die Zukunft spricht: Den Hof übernehmen, das könne er alleine wohl nicht. Tobias sagt verhalten, dazu müsste er jemanden finden, dem er in allem blind vertrauen könne. Als sei das nicht sehr wahrscheinlich.
Die Sonne ist inzwischen hoch hinter eine dichte Wolkendecke gestiegen und der Nebel verzogen. Tobias wendet sich den Kühen auf der Weide zu, die ihn mit ihren großen, schwarzen Augen stoisch beobachten. Es liegt noch viel Arbeit vor ihm.