Ein Buch für die Bahn

Kathartische Wirkung wird vor allem klassischen Dramen nachgesagt. Marion Poschmann zeigt, dass auch Literatur eine erleichternde Gefühlsabfuhr generieren kann – nachdem man sich durch hundertvierundsechzig poetische, aber frustrierende Seiten gequält hat.

Anstrengend am Bahn fahren sind vor allem die anderen. Gut beraten, wer mit Lektüre augerüstet ist.
“The Travelling Companions” (1862) Augustus Leopold Egg; Bildquelle: Birmingham Museums Trust / Unsplash.

Gilbert Silvester ist ein enttäuschter Mann. Enttäuscht von seiner Karriere (“Bartforscher im Rahmen eines Drittmittelprojekts”), enttäuscht von der Gesellschaft (“Als junger Mann hatte er geglaubt, überdurchschnittlich intelligent zu sein, aus der Menge der spießigen, angepassten Leistungsträger herauszustechen und die Angelegenheiten der Welt mit philosophischem Scharfsinn zu durchdringen. Jetzt fand er sich in prekären Verhältnissen wieder […].”) und enttäuscht von seiner Frau Mathilda (“Er hatte geträumt, dass seine Frau ihn betrog.”). Dies nimmt Silvester zum Anlass, kurzentschlossen nach Japan zu fliegen.

Marion Poschmanns Roman Die Kieferninseln ist eine Erzählung über die Flucht Silvesters aus dem frustrierenden Alltag, rein in eine fremde Welt (Japan), hin zu Entfremdetem (sein Inneres). Nach einem abschreckenden Einstieg entfaltet das Buch eine Art Bildungsreise: einerseits zart und geheimnisvoll, andererseits ignorant und peinlich egozentrisch. Poschmanns unerbittliche Einfühlsamkeit mit dem Protagonisten (ein klassischer Vertreter der Reihe intellektueller Männer mit eingefahrenem Leben) schmerzt und amüsiert – nicht immer ist klar, was schwerer wiegt. Genauso liebevoll genervt kommentiert Silvester seinen zufälligen (?) Reisepartner Yosa, ein regelgeleiteter japanischer Student auf Selbstmord-Suche.

Beide sind getrieben von einer manischen Unsicherheit, die Poschmann in soghaft-rhythmische Textepisoden voll sinnlicher Wortgewandtheit packt. Stets frustrierend dabei ist Silvester, der verlässlich unausstehlich bleibt. Derart abstoßend, dass sich die Leserin wundern muss, warum Poschmann (49 und weiblich) einen derart unangenehmen Protagonisten zeichnet. Immer wieder arbeitet sich Silvester an seiner stets abwesenden Ehefrau Mathilda ab, die selbst keine Stimme bekommt. Anstrengend.

Vielleicht ist aber genau das der Punkt. Silvester selbst wird von seinem asketischen Projekt der Abwendung immer wieder frustriert: Matsushima, das Ziel seiner Reise, ist anders als erwartet, der allgegenwärtige Tee schmeckt nicht und Yosa mit seinem lächerlichen Ziegenbärtchen ist sowieso eine Enttäuschung. Silvesters nicht enden wollendes Selbstmitleid plagt selbst wohlwollende Leserinnen. Gut, dass Poschmann so elegant Worte verzahnen kann, sonst wäre der klischeegeschwängerte Reisebericht Silvesters kaum zu ertragen.

Die Kieferninseln verlangen also vor allem Durchhaltevermögen. Dafür stellt sich ein erleichterndes Gefühl von Katharsis ein, sobald Silvester seinen letzten Satz sagt. Hinter dem Frust scheint die Sonne und man erinnert sich schnell nur noch an fast sakrale Momente, wie: “Die Kiefern forderten den Besuchern etwas ab. Sie standen friedlich und voller Anmut, ihre Nadelbüschel öffneten sich zu geduldigem Grün, zu glänzenden Strahlenkränzen, ein hypnotisches Auseinanderstreben, mit dem ein Tänzer die Fäuste öffnet, die Finger entspannt. Konstant standen die Kiefern zwischen den rastlosen Menschen, Ruhepole, altehrwürdig, seit Hunderten von Jahren bewährt. Man musste ihnen gewachsen sein.”

Was als Reiseroman daherkommt, sollte beim nächsten Ausflug lieber zuhause bleiben. Man lädt schließlich auch nicht den gut situierten, aber immer nörgelnden Onkel in den wohlverdienten Urlaub ein. Stattdessen ist Poschmanns Erzählung, nicht zuletzt durch seine handliche Taschenbuchausgabe und die gelungene Episoden-Struktur, eine ideale U-Bahn-Lektüre: Gilbert Silvester setzt durch seine absurde Lächerlichkeit, durch sein getriebenes Immer-in-Bewegung-Sein, gekonnt den Stress des öffentlichen Nahverkehrs in Relation, sodass sich die Mitmenschen gleich viel besser ertragen lassen.

Marion Poschmann: Die Kieferninseln. Roman, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017

Diese Rezension ist im Rahmen des Literaturkritik-Seminares im Wintersemester 2019/20 entstanden. Hier geht es zu einer weiteren Rezension des Buches.