10. December 2019
Anna-Lena SchlittTräume sind Schäume

Da, wo die Grenzen zwischen Wachen und Träumen verschwimmen, spricht man in der Schlafforschung von Hypnagogie und Hypnopompie. Das meint nichts anderes, als das, was Marion Poschmann in ihrem 2017 erschienenen Roman Die Kieferninseln so beschreibt: “Wachträume, Bilder, die kurz vor dem Einschlafen auftauchen, wenn die Denkfunktion allmählich zur Ruhe kommt, Bilder, die das Bewußtsein noch beim Erwachen begleiten, kurz bevor das alltägliche Funktionieren wieder einsetzt.” Durch diesen nebulösen Zustand zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein, zwischen Wachen und Träumen, manövriert Poschmann ihren Protagonisten.
Gilbert Silvester, Privatdozent und Bartforscher im Rahmen eines universitären Drittmittelprojekts, träumt, dass seine Frau ihn betrügt. In Reaktion auf diese, seiner Meinung nach “unmißverständliche Warnung des Unterbewußten an ihn, das naive, ahnungslose Ich”, packt Gilbert seine sieben Sachen und steigt in einen Flieger nach Japan.
In Tokyo angekommen, gewinnt der ans andere Ende der Welt Gereiste einen unfreiwilligen Gefährten: Yosa Tamagotchi. Gilbert kann den jungen, von Versagensängsten geplagten Studenten gerade noch davon abhalten, sich das Leben zu nehmen. Für einen Selbstmord gebe es gute Orte und schlechte, referiert der suizidale Student aus seiner Lektüre des “The Complete Manual of Suicide”. Gut geeignet seien die Nishikigaura-Klippen an der Pazifikküste, schlecht die von ihm auserkorene Bahnstation in Tokyo. Gilbert verspricht, einen besseren Platz für Yosas Vorhaben zu finden.
“Sind es Träume, Tagträume, Visionen?”
Gesagt, getan: Aus den “Places to Die”-Empfehlungen des Selbstmord-Handbuchs und Gilberts Lektüre, den Reisebeschreibungen “Oku no hosomichi” des berühmten japanischen Haiku-Dichters Matsuo Basho, ergibt sich ein denkbar skurriles Potpourri an Reisezielen: Auf dem Weg zu den Kieferninseln von Matsushima soll nicht nur den Kirschblüten von Ueno und Japans höchstem Berg, dem Fuji, ein Besuch abgestattet werden, sondern auch dem Selbstmordwald Aokigagara und dem Mihara-Vulkan auf der Insel Izu-Oshima, “in dessen Krater sich die Lebensmüden zu stürzen pflegen, wenn sie besonders schick enden wollen.”
Während Gilbert und Yosa abwechselnd durch graue Plattenbau-Tristesse und smaragdgrüne Wälder unter behäbigen Wolkenbergen wandeln, werfen nicht nur die unwirklich anmutenden Landschaftsbeschreibungen die Frage nach der Realität des Geschehens auf. Spätestens das Erscheinen von Geistern macht die Auseinandersetzung mit dem Ursprung des Erzählten unvermeidbar: “Sind es Träume, Tagträume, Visionen? Illusionen, Einbildungen, Gesichte?”
Die Kieferninseln ist das detailverliebte Werk einer Poetin, die es vermag, in Worte zu fassen, was nicht in Worte fassbar zu sein scheint. Auf den Spuren Matsuo Bashos erkundet Marion Poschmann mit ihrem Reiseroman nicht nur das japanische Hinterland. Vielmehr ist ihr Roman eine Expedition ins menschliche Innere, eine Erkundung des Bewusstseins, ein Erforschen der Gespinste, die unser Hirn zu spinnen in der Lage ist – wachend und träumend.
Wortgewaltig malt sie in nicht enden wollenden Sätzen Traumlandschaften, fängt in staccatohaften Skizzen Alltagsbilder ein. Lullt die Lesenden ein in gefühlvoll beschriebene Wolkenberge und Moosteppiche, lässt aufschrecken durch den unvermittelt harschen Ton ihres vor sich hin räsonierenden Protagonisten.
Doch wo sie sprachlich brilliert, leidet bisweilen die Stringenz der Erzählung: Fäden werden aufgenommen, verknoten sich, werden im Gewirr vergessen und nicht zu Ende geführt. Das ist schade, denn viele der durchaus klugen Gedanken hätten sich gelohnt, zu Ende gedacht zu werden.
Und so ist Marion Poschmanns Roman wie ein Traum: Zurück bleiben schemenhafte Bilder und ein ungemein starkes Gefühl – aber was genau passiert ist, weiß eigentlich niemand so genau.
Marion Poschmann: Die Kieferninseln. Roman, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
Diese Rezension ist im Rahmen des Literaturkritik-Seminares im Wintersemester 2019/20 entstanden. Hier geht es zu einer weiteren Rezension des Buches.