07. February 2020
Anna-Lena SchlittDer schräge Otto

“Jeden Morgen das gleiche Spektakel!“ Fluchend setzte sich Otto im Bett auf. “Das war bestimmt wieder dieser Sydow aus dem Fünften.“ Dass der einer adeligen Familie entstammen sollte, war seinem Getrampel auf jeden Fall nicht anzumerken. Man sollte meinen, dem preußischen Adel wäre es eine Ehre, seinen Sprösslingen Benimm beizubringen. Wahrscheinlich hatte sich dieser Herr Von und zu gar nicht freiwillig gegen die Karriere entschieden. Schlosser war er nun. Das grobe Handwerk passte gut zu dem großen Mann mit dem feisten Gesicht.
Fröstelnd zog sich Otto die Decke über die Schultern. Er hätte es wissen sollen: Erdgeschosswohnung und dann auch noch unter der Treppe – nach einer langen Nacht in Roswitas Eckkneipe waren ihm hier nur selten ruhige Morgenstunden vergönnt.
Mittlerweile erkannte er sie alle an ihren Schritten. Nach Sydow schlichen für gewöhnlich die beiden Wiener auf leisen Sohlen aus dem Haus. Otto konnte die beiden Schnösel nicht leiden. Taten immer so, als verstünden sie was von Musik. “Kontakte zum Berliner Opernhaus“, Otto schnaubte, “dass ich nicht lache – Opernhaus!“ Er fühlte sich wohl in der verrauchten Kneipe, in der er aufzutreten pflegte. Viel Geld kam dabei nicht herum, aber Roswita, die Wirtin, ließ ihm in den Pausen den ein oder anderen Schnaps zukommen.
Sein Kopf schmerzte. Gestern war es vielleicht der ein oder andere zuviel gewesen. Dass dieses Trampeltier von Strehlau nun auch noch die Haustür ins Schloss werfen musste, als gäbe es kein Morgen! Eine Künstlerseele wie er sollte nicht zwischen diesen grobschlächtigen Schlossern und Wasserwerksarbeitern hausen. Leise vor sich hin fluchend schälte sich Otto aus den Laken. Er brauchte erstmal eine Tasse Kaffee, ach was, eine Kanne! Während er das Wasser aufkochte, flogen ihm Bilder des vergangenen Abends durch den Kopf.
Hatte Roswita ihn angelächelt? Oder hatte sie gelacht? Hatte sie ihn ausgelacht? Ihn, den Jazz-Pianisten, der allabendlich auf dem verstimmten Klavier in ihrer Eckkneipe Launiges für Jedermann zum Besten gab? Er fühlte, wie ihm die Schamesröte in die Wagen fuhr. “Quatsch!“, rief er aus. Es gab nichts, dessen er sich zu schämen brauchte.
Das Geld würde schon kommen. Bald würde er sich leisten können, das alte Klavier stimmen zu lassen. “So ein Quatsch!“ Was verschwendete er überhaupt einen Gedanken an diese Frau: Viel älter als er war sie und ihre dicken Finger vom Spülen so schrumpelig wie die einer Kröte. Sein Magen fühlte sich flau an. Hatte sie gelacht? Er versuchte das Gesicht der Wirtin aus seinem Kopf zu verscheuchen.
Rumms – wieder die Haustür. Das mussten die Herren Wachtmeister gewesen sein. Braun und Bon. Beste Freunde seit Schultagen. Man sah sie stets im Doppelpack. Wachtmeister Fitcher aus dem Dritten riss bei jeder Möglichkeit dumme Sprüche über die beiden: “175er. Schwuchteln. Wie ein altes Ehepaar.“ Otto konnte ihn nicht leiden.
Eigentlich konnte er niemanden leiden in diesem Haus. Außer der Gau von Gegenüber. Seitdem sie von dem Schläger von Ehemann geschieden war, verdingte sie sich als Näherin. Die Scheidung hatte für einen riesigen Aufschrei gesorgt. Aufträge bekam sie kaum. Sie konnte sich gerade so über Wasser halten. Zum Glück hatte sie keine Blagen, die sie mit durchfüttern musste. Manchmal plauschte er mit der Gau im Treppenhaus. Sie war es auch gewesen, die ihm den Vorschlag gemacht hatte, in der Kneipe von Roswita aufzutreten. Früher war sie dort auch aufgetreten. Chansons hatte sie gesungen. Der Schläger hatte sie quasi von der Bühne weggeheiratet. Eine Woche später hatte sie ihr erstes Veilchen. Jetzt saß sie abends oft mit leeren Augen am Tresen und stierte in ihr Glas.
Es schellte an der Tür. Das war bestimmt wieder dieser bekloppte Fornerling. Seitdem der in Rente war, wusste er nichts mehr mit seinem Leben anzufangen und piesackte die Bewohner des Hauses. Was er wohl heute wieder wollte? Wahrscheinlich ging es um die elende Eiche im Hinterhof – “Fällen sollte man die”, sagte er allzu oft – dann müsste man im Herbst auch nicht ständig die Blätter zusammenfegen.
Es schellte erneut. “Ich komme ja schon!“, rief Otto nach Atem ringend, während er versuchte, sein Hemd über den Kopf zu ziehen. Auf die Socken würde er verzichten müssen. Er konnte sie beim besten Willen nicht finden. Barfuß eilte er zur Tür.
“Guten Morgen, Herr Fornerling, was kann ich für sie tun?“ Der Rentner musterte ihn abschätzig. “Ich hätte nicht erwartet, dass sie um diese Uhrzeit noch nicht aus dem Bett sind, Herr Schulz-Reichel. Ich kann auch später wiederkommen.“ – “Nein, nein, nun sagen Sie doch, wie ich Ihnen weiterhelfen kann.“ Otto versuchte, nicht allzu gequält zu lächeln. Es passte ihm nicht, dass er sich ausgerechnet mit diesem Wichtigtuer gutstellen musste. Er hätte sich das Geld für die letzte Miete nicht von ihm leihen sollen. Seitdem behandelte ihn der Alte wie seinen Leibeigenen. “Würden Sie heute das Laub im Innenhof zusammenfegen? Ich hatte Sie ja bereits gestern darauf hingewiesen.“
Otto hatte es gewusst. Er wollte ins Bett. Sein Schädel dröhnte. Laub war nun wirklich das Letzte, womit er sich heute auseinandersetzen wollte. “Natürlich, Herr Fornerling, ich werde mich unverzüglich ans Werk machen!“ Mit einem Lächeln, so breit, dass die Mundwinkel schmerzten, versuchte er den Alten aus der Tür zu drängen: “Schönen Tag noch, Herr Fornerling, bis bald, Herr Fornerling, ich mache mich gleich ans Werk, Herr Fornerling!“ Otto schnaufte. Er würde sich auf Dauer eine neue Bleibe suchen müssen. Dieses Theater war ja nicht zum Aushalten. Das behinderte seinen Schaffensprozess. Er war Künstler! Für solcherlei Nichtigkeiten hatte er keine Zeit.
Otto beschloss, sich einen kleinen Schnaps gegen die Kopfschmerzen zu genehmigen und machte sich auf den Weg zu Roswitas Eckkneipe. Im Flur stieß er mit dem Puschert zusammen. Ertappt schaute der drein. Hatte der sich gerade aus der Wohnung der Lohrenscheidts geschlichen? Er hatte es geahnt! Die Lohrenscheidt und der Puschert. Die Blicke waren ja eindeutig gewesen. Ob der Lohrenscheidt das wohl wusste?
Otto steckte sich eine Zigarette an. Kalt war es geworden. Und dann auch noch dieser Nieselregen. Er schlug den Kragen hoch und zog den Kopf zwischen die Schultern. Und bei diesem Wetter sollte er Laub zusammenfegen. Der Fornerling hatte sie ja wohl nicht alle. Es wurde wirklich Zeit für eine neue Wohnung.
Bei Roswita angekommen, orderte er einen Klaren. “Ich habe dir etwas zu erzählen.“ Was redete er da? Nichts hatte er zu erzählen, rein gar nichts. Er erwischte sich dabei, dass er die Wirtin tatsächlich beeindrucken wollte. Er. Roswita. Sie schaute gelangweilt zu ihm hinüber. “Ich werde Karriere machen.“ Roswita lachte. “Du? Mit deinem schrägen Klavier?!“. Ihr Lachen dröhnte ihm in den Ohren. “Ja, genau! Ich! Mit meinem schrägen Klavier.“ Jetzt klang er wie ein trotziges Kind. “Der schräge Otto!“ Roswitas Lachen schallte durch die leere Kneipe, “der schräge Otto!“
Der Text entstand im Rahmen der Schreibwerkstatt bei Prof. Annett Gröschner. Aufgabe war es, die eigene Adresse im Berliner Adressbuch des Jahres 1928 zu finden und über die damaligen Bewohner*innen des Hauses fiktive Geschichten zu schreiben. Hier handelt es sich um ein Haus in der Gottschalkstraße in Gesundbrunnen.