25. June 2020
Lilly TemmeEine Studentin, die noch ihre Jogginghose trägt
Klar, wir vermissen unsere Kommiliton*innen. Aber das digitale Semester bietet ungeahnte Freiräume, die wir gar nicht mehr hergeben wollen. – Zwei Monate Seminare am Bildschirm sind genug? Hier geht es zu Episode 1.
Liebes Online-Semester,
ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, aber ich bin dir wirklich dankbar. Durch dich habe ich viel (über mich) gelernt. Wir hatten unsere Anfangsschwierigkeiten, klar, aber ich glaube das ist normal, wenn man sich neu kennenlernt. Mittlerweile haben wir uns schon so aneinander gewöhnt, dass ich mir die Welt, wie sie vor dir war, gar nicht mehr so gut vorstellen kann.
Dadurch, dass ich die Wege zur Uni spare, habe ich etwas Wichtiges gewonnen: Zeit. Am Tag circa 70 Minuten. Das sind pro Woche 350 Minuten, also fast 6 Stunden. Und was habe ich mit der Zeit gemacht? Sie in etwas anderes Wichtiges gesteckt: Schlaf. Zumindest am Anfang. Mittlerweile habe ich Schlaf gegen Sport getauscht: Ich starte meinen Morgen jetzt mit Bewegung, und sei es nur Stretching. Ansonsten: Yoga oder Joggen. Ja genau, so jemand bin ich geworden. Bald werde ich sicherlich in den elitären Kreis der morgendlichen Spreejogger*innen aufgenommen, die sich ihre Disziplin und Sportlichkeit mit gegenseitigen Zunicken zu attestieren scheinen. Aber ich fühle mich besser, Sport am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen. Und ja, ich bin jetzt scheinbar eine Person, die sowas sagt.
Was mir außerdem mit dir gefällt ist, dass ich von überall arbeiten und studieren kann. Ich bin nicht an einen Ort gebunden, denken kann ich auch unter dieser alten Weide an der Spree. Oder in der Küche, mit Direktzugang zum Kühlschrank. Oder auf dem Balkon. Aber auch erstaunlich gut an meinem Schreibtisch.
Wo wir gerade beim Thema sind: Ordnung ist ja bekanntlich das halbe Leben. Ich danke dir, denn ich musste meinen Schreibtisch erst komplett aufräumen, bevor das mit dem Arbeiten daran richtig funktionieren konnte. Und dabei habe ich Sachen wiedergefunden: die alte Armbanduhr mit dem grünen Band zum Beispiel. Oder einen Gutschein für eine Massage. Eventuell auch die ein oder andere unbezahlte Rechnung. Die zu bezahlen hat sich dann aber irgendwie gut angefühlt. So, als hätte ich mein Leben komplett im Griff. So, als wäre Selbstdisziplin nicht nur ein Wort mit 15 Buchstaben. Jetzt liegt auf dem Tisch nur noch der Laptop, mein Kontakt zur Außenwelt, eine Lampe und ein Notizbuch.
Manchmal muss man etwas erst verlieren, um zu begreifen, wie wichtig es einem ist. Zu guter Letzt danke ich dir also, weil ich durch dich gemerkt habe, wie wichtig mir die Uni und vor allem die Menschen, die man dort trifft, sind. Ich empfinde wieder mehr Dankbarkeit dafür, dass Zwischenmenschliches nicht immer unkompliziert und schön ist, sondern auch holprig. Und dass ich gerne den Kaffee aus der Filtermaschine im Institut trinke, der förmlich nach Sodbrennen schreit, aber über den man sich dann zumindest gemeinsam echauffieren kann. Jetzt muss ich zurück an den Schreibtisch, eine Videokonferenz steht an.
In Dankbarkeit – eine Studentin, die noch ihre Jogginghose trägt.