Die Ambivalenz der Emotionen

Héloïse Adelaïde Letissier alias Christine and the Queens vermischt Musik mit Tanz, Französisch mit Italienisch und Englisch und ihre Emotionen mit Metaphern für ebendiese. Was dabei herauskommt? Ein knapp vierzehnminütiges Video mit dem Titel La vita nuova, eine gleichnamige EP und Einblicke in die Gedankenwelt einer Performancekünstlerin, die zwischen Tanz, Gesang und Inszenierung oszilliert.

Hier geht es zu einer weiteren Kritik des Albums.


Die Sonne geht auf in Paris, Héloïse Adelaïde Letissier alias Christine and the Queens tanzt sich auf einem Dach die Seele aus dem Leib und reflektiert damit ihre Gefühle. Ehrlich, unkonventionell und immer passend zum Beat. Wer stets dabei ist in ihrem Video? Ihr innerer Dämon: Ein Wesen, vielleicht Mephisto, vielleicht ein Teufel, vielleicht ein Vampir, auf jeden Fall ein Schatten, der sie von Szene zu Szene begleitet.

Wir alle haben diese Dämonen, die unser Leben beeinflussen. Sie äußern sich in Form von Unsicherheiten, im Gefühl, nicht genug zu sein, und gleichzeitig spenden sie uns auch Sicherheit, sind Teil der persönlichen Komfortzone, aus der wir zwar rausmüssen, um voranzukommen, die aber dennoch so verdammt komfortabel ist.
Dass dieses Wesen eigentlich Teil von Christine and the Queen ist, wird in den ersten Minuten des Videos deutlich: Es hält ihr den Mund zu, sie reißt sich los, die Kamera zeigt eine größere Perspektive des Pariser Morgens, und das Wesen ist weg.

Der Traum von Gemeinschaft


Christine and the Queens stellt diese Ambivalenz der Beziehung zu ihrem inner demon auf dem Dach, auf dem sie zu “People I’ve been sad” tanzt, dar. Sie und das Wesen – oder sie und sie – greifen nacheinander, nachdem sie die Treppe auf dem Dach des Pariser Gebäudes erklommen hat. Sie berühren sich nicht, die Künstlerin fällt, so wie man oft in Träumen fällt – und landet sanft in einem Tanzstudio, das ihr einen Moment der Gemeinschaft beschert.

Für einen Moment wird sie Teil einer Gruppe, tanzt und singt “Je disparais dans tes bras”, nun auf Französisch, weniger schwer und weniger melancholisch. Der Beat verschmilzt mit den Schulterbewegungen der Tänzer*innen, die wiederum einem schnellen Herzschlag ähneln. Die Protagonistin wirkt dabei ausgelassen, lässt sich bestärken und fallen. Doch plötzlich wollen alle einen Teil von ihr haben, sie geht in Händen und Berührungen der anderen unter, ihr Dämon taucht wieder auf. Die Gruppe ist nur temporär, beschert ihr einen kurzen Moment von Gemeinschaft, bis sie auch aus diesem Traum aufwacht und sich auf einer großen Bühne wiederfindet.

Nun ist sie wieder alleine, mit einem Flügel auf einer stickstoffbenebelten Bühne und performt “Mountains”. Sie singt wieder auf Englisch und auf Nachdenklich. In einem bunten Samtoberteil tanzt sie einem Mikrofon auf der Bühne des Pariser Opéra Garnier hinterher. Der Erfolg macht süchtig, sie will gehört und gesehen werden. Selbstbewusstsein und der Wunsch nach Erfolg treffen auf den Fall und den Druck, hinterherzukommen. Oder war es doch nur ein Traum? Oder wollte sie das gar nicht? Auch hier wieder Ambivalenz: Ihr scheint es zu gefallen, im Rampenlicht zu stehen, aber sie wirkt eben nicht zu hundert Prozent glücklich – ein auf und ab, so wie Berge eben sind. Das Video und ihre Songs sind voll von Metaphern und bewusster Auswahl von Sprachen.

Die Sprachen der Gefühle


Als Linguistin könnte man beim musikalischen Sprachmix bei Christine and the Queens von code-switching sprechen. Der Begriff bezeichnet das bewusste Auswählen einer Sprache in bestimmten Kontexten und Situationen, abhängig davon, wo und wie man einer bestimmten Sprache begegnet ist und in welchem Zusammenhang man sie gelernt hat. Die Künstlerin überträgt dies mit ihrem Gesang, mal Pop, mal Chanson, mal R’n’B, mal irgendwo dazwischen oder daneben, auf die Ohren ihres Publikums. Unterschiedliche Genres kombiniert sie mit dazu passenden Sprachen und Emotionen.

Zurück zum Video: Die Singer-Songwriterin liegt auf dem Boden der Bühne, schließt die Augen und ist einen wortwörtlichen Augenblick später alleine in einem anderen Teil des Theaters, ihre Augen rot unterlaufen. In einem faserig-weißen Kleid mit Schleppe stützt sie sich langsam vom Boden auf und singt kurz auf Spanisch und Englisch “Nada”, während sie durch das Operngebäude rennt, ihr die Kamera folgt und man als Zuschauerin nicht weiß, ob sie rennt, um wegzukommen, oder ob sie wirklich weiß, wo sie hinwill. Bei “Nada” sieht man außerdem für einen kurzen Moment, als Christine and the Queens das Dämon-Wesen im Dunkeln wiederfindet, ein Tattoo mit dem Schriftzug “We accept you” auf ihrem rechten Arm.

Vom Mut, zu sich selbst zu stehen


Egal ob man ihre Musik, ihren Stil und ihre Moves gut findet, eins muss man ihr lassen: Sie traut sich, das was sie fühlt, mit allem was sie kann, künstlerisch umzusetzen: In Sprachen, Tönen und Bewegungen – und das in einer Welt, in der viele Künstler*innen sich platt, perfekt, distanziert und damit gefühllos geben. Letzten Endes schafft sie mit der Unterstützung des Regisseurs Colin Solal Cardo zweierlei: Ihre eigenen Gefühle zu reflektieren und sie so darzustellen, dass sie auch fürs Publikum fühlbar und wahrnehmbar werden.


Im letzten Teil wird die Künstlerin schließlich eins mit ihrem inneren Dämon. Sie und Caroline Polachek singen energisch “La vita nuova”, teilweise auf Italienisch – nun entschlossen, mit Nachdruck. Als am Ende alle Anwesenden auf der wilden Ballraum-Party umfallen, bleibt Christine and the Queens stehen, setzt sich die Hörner ihres inneren Dämons auf und ist eins mit dem Teil von ihr, den sie wahrscheinlich zuvor nicht akzeptiert hat. Es könnte aber auch sein, dass sie sich ihrem inneren Dämon hingegeben hat und deshalb mit ihm verschmolzen ist. Oder beides – ein Hoch auf die Kunst der Ambivalenz.


Es ist viel, es überflutet die Reize und ist gleichzeitig so nah an der Realität von Emotionen. Das macht die EP und den Kurzfilm trotz Vielseitigkeit stimmig, vereint die unterschiedlichen Tempi, Instrumente, Szenen und Musikstile. Christine and the Queens zeigt eindrücklich, worauf es 2020 ankommt: Auf den Mut, zu sich zu stehen und sich bewusst zu entscheiden, all das zusammenzusetzen, was auf den ersten Blick unpassend und widersprüchlich scheint.

Christine and the Queens: La vita nuova (EP), Because Music, veröffentlicht am 27. Februar 2020