29. June 2020
Sarah KailuweitSehnsucht der Selbstfindung
Christine and the Queens bereichert in ihrem neuen Album Musik, Tanz und das Denken über Geschlechter. Eine transformative Reise der Popavantgarde.
Hier geht es zu einer weiteren Kritik des Albums.

Sie rennt. Berüschte Stoffbahnen fließen über weißen Marmor. Christine eilt durch vergoldete Hallen voller opulenter Leuchter, vornehmen Kalksteinbüsten und barocken Gemälden. Hauptsache vorwärts, nie zurück.
La vita nuova nennt Héloïse Letissier, besser bekannt als Christine and the Queens, ihre neueste Veröffentlichung. Sechs Lieder verdichten sich in einem von Colin Solal Cardo gedrehten Kurzfilm zu einem Gesamtkunstwerk. Seit ihrem Debütalbum Chaleur humaine von 2014 ist die ausgebildete Pianistin, Tänzerin und Schauspielerin ein französischer Popstar. Während das 2018 erschienene Album Chris die androgyne Seite der Künstlerin in den Fokus rückt, löst sich Christines Identität in La vita nuova in eine Welt voller Möglichkeiten auf: eine Abrundung ohne Ausschluss. Durchgehender Spielplatz: die Opéra Garnier in Paris. Treffend, denn das fünfzehnminütige Video pocht, ähnlich wie die diversen Räumlichkeiten der Oper, in alle Richtungen. Ein Tempel der Kunst mit Entfaltungsmöglichkeiten für all jene, die in der urbanen Normalität auf- und rausfallen. Hier tanzen Eleganz und Brutalität Hand in Hand über das Dach.
Fließende Zerrissenheit
Genau dort beginnt die Reise auch mit “People, I’ve been sad”: Sehnsuchtsvolle Blicke Richtung Horizont, Christines fließende Zerrissenheit und ein Satyr. Das mythologische Mischwesen aus dem Gefolge Dionysos‘ ist Goldmund zum Narziß der Künstlerin. Christine singt “You know the feeling”, und es wird klar, warum die Französin eine Ikone der LGBTIQ-Community ist. Hier spiegeln sich die unverstandenen Dorfkinder, für die Paris oder Berlin Sehnsuchtsorte der Selbstfindung sind. Die Oper, der Satyr – es liest sich wie der Tagtraum queerer Siebzehnjähriger, deren einziger Fluchtraum die schuleigene Musicalproduktion ist. Eingehüllt von einer Atmosphäre der Eventualitäten fällt Christine in die Arme einer Clique: “Je disparais dans tes bras.” Sie wird aufgefangen von der Wahlfamilie im Ballettsaal und tanzt zu wummernden Bässen und Upbeat-Synth-Pop. Ryan Heffingtons Choreografie greift den Herzschlag als treibendes Element auf und verkörpert strotzende Lebensfreude. Ein Fest der Gemeinschaft mit gemeinsamer Richtung trotz Individualität: energischer Beat, elektronische HipHop-Einschläge. Da streift der Satyr wieder durch das Bild. Die Stimmung kippt, Hände greifen, Blut fließt und Christine bleibt allein zurück.
Avantgarde küsst Pop
Jede Transformation verlangt nach einem meditativen Moment. Die Ballade “Mountains (we met)” ist unaufgeregt zart. Ein Flügel, Streicher im Hintergrund und Christine auf der vernebelten Bühne des leeren großen Saals. Die suchende Artistin voller Sehnsucht ist ungreifbar mit binären Denkmustern. Avantgarde küsst Pop. Ist das die Zukunft der europäischen Querness? Christine schöpft Kraft aus ihrer extremen Verletzlichkeit: “Nada” treibt, begleitet von minimalistischen Elektroelementen, durch die barocken Kulissen der Eingangshallen und endet in der Unterbühne. Diese vertonte Einsamkeit erinnert an die pulsierenden Werke der schwedischen Musikerin Karin Dreijer (Fever Ray). Es klingt nach fokussierter Energie, deren Druck Körper zerreißen kann. Im Verloren-Sein findet Christine den sterbenden Satyr und hievt ihn zur finalen Station: “La vita nuova”.
Säulen des abgedunkelten Raumes strahlen hämmernd lilablau, funkelnde Lichterketten spiegeln sich auf dem Boden. Im Duett mit Caroline Polachek (Chairlift) entfaltet sich eine Selbstbestimmungshymne. Die beiden Sängerinnen ergänzen sich in mehreren Sprachen, während sie zwischen Menschen baden. Mit verzerrten “Oh Yeah”-Stimmen und Flatterhänden tanzen auch die 80er-Jahre mit. Ein Spektakel irgendwo zwischen Boygroup-Choreo und Vougeing-Elementen. Michael Jackson wäre stolz gewesen. Die Beats sind ansteckend, genau wie Christine selbst. Hier passiert so viel gleichzeitig, dass nicht klar wird, was im Stroboskoplicht eigentlich wichtig ist. Voll in Ordnung, wehren kann man sich sowieso nicht. Auf Textebene wird klar: Menschen mit gebrochenem Herzen sind selbst die besten Herzensbrecher*innen. Also: Lüsterne Blicke Richtung Caroline, erotisch enge Tanzeinlagen und wieder ein Biss. Geleitet von ihrer Angstliebe ist die Künstlerin angekommen und wird selbst zum wilden Satyr.
Musik für irritierte Herzen
Christine and the Queens gelingt, wonach viele streben: Klanglich abenteuerlich mischt sie Genres und Einflüsse, ohne ihre Eigenheit zu verlieren. Im Beat unterscheiden sich die Songs nur gering, die Füllungen dieser Rahmungen sind aber so abwechslungsreich wie herausfordernd und trotzdem im Terrain der Popmusik zu Hause. Zugängliche Musik für irritierte Herzen. Menschen statt Geschlechter lieben: Christines Pansexualität ist essentieller Bestandteil ihrer künstlerischen und persönlichen Identität. Sie schneidet ihr Inneres auf und nimmt uns mit. Zahlreiche Querverweise zu diversen Künstler*innen und ihren eigenen Arbeiten stopfen dabei Löcher, die es sowieso kaum gibt: eine Hommage der Vielschichtigkeit. Christine thematisiert Einsamkeit der Reizüberflutung im Spätkapitalismus und wickelt dieses Generationsgefühl in glamouröse Opulenz. Eine Erzählung über Entfremdung in der Großstadt, über Selbstfindung in der Kunst und die Sehnsucht nach beidem.
Christine and the Queens: La vita nuova (EP), Because Music, veröffentlicht am 27. Februar 2020