Aus den Welten gerissen – Portrait eines Studienbewerbers

Künstler zieht es seit Jahrzehnten nach Berlin. Auch David Minh Ha wollte wissen wie sich Berliner Freiheit anfühlt und zog aus dem tschechischen Ostrava in die deutsche Hauptstadt. Er erzählt Praxis von den drei Etappen seines bisherigen Lebens und warum der Umzug seine erste eigene Entscheidung ist.  

Wenn David aus dem Fenster seines Zimmers im Erdgeschoss eines Lichtenberger Studentenwohnheims guckt, blickt er auf ein grünes Baurohrkonstrukt, das nach etlichen, am Fenster gerauchten Zigaretten aussieht wie eine brutalistische Kunstinstallation. Die letzten Monate stand er oft an diesem Fenster. Er hatte sich von seinem Sozialleben verabschiedet, um jede freie Minute am Bewerbungsportfolio für die Kunsthochschule zu arbeiten. Für David, der sonst gerne B- und C-Pläne in der Tasche hat, gibt es diesmal nur Plan A: Visuelle Kommunikation an der Universität der Künste Berlin. 

Seine Geschichte ähnelt der vieler Gleichaltriger, die mit Anfang Zwanzig ihren Platz in der Welt suchen. 

Porträt David Minh Ha. Foto: Chi Nguyen

Nur scheint David seit seiner Geburt auf der Suche nach einem festen Platz zu sein. Seinen bisherigen Weg unterteilt er in drei Kapitel: Tschechien, Vietnam und Deutschland, die Länder, in denen er lebte. Seine Eltern kamen in den 80er Jahren als Vertragsarbeiter aus Nordvietnam nach Tschechien. Dort verbrachte David seine Kindheit, doch mit sechs Jahren beschlossen seine Eltern, ihn nach Vietnam zu den Großeltern zu schicken. Seine kleine Schwester durfte bei den Eltern bleiben. “Ich glaube sie wollten, dass ich traditionell vietnamesisch aufwachse, sodass ich meine Kultur und Wurzeln kenne.” 

Gleichzeitig ein Leben im Ausland aufzubauen und seinen Kindern ein stabiles Familienleben zu ermöglichen, fiel den Eltern damals schwer. “Sie glaubten, dass meine Großeltern ein besseres Vorbild für mich wären. Aber ein Kind ist kein Roboter … Ich wollte einfach nur bei meinen Eltern bleiben.”

Am Fenster steht man gleichauf mit der Straße. Auf dem Flecken gepflasterten Boden vor seinem Fenster liegen unzählige Zigarettenstummel aus Davids Kreativpausen. “Hier stand mal ein Stuhl, auf den ich mich immer gesetzt habe. Aber jemand hat ihn geklaut”, erzählt er peinlich berührt. Sein Zimmer ist spärlich möbliert. In einem Regal steht eine Flasche Fischsauce, ein paar Packungen Instant-Ramen und ein Besteckkorb mit Stäbchen. Dinge, die in keinem vietnamesischen Haushalt fehlen dürfen. 

Auf dem Fußboden liegen Arbeiten aus seiner Mappe kreisförmig verteilt. David findet es bequemer auf dem Boden zu arbeiten, als am Schreibtisch. Denn dieser wird von verschiedenen Sachbüchern über Design besetzt und auch mit Hautimitatsfetzen, auf denen er mit einer billigen Tätowiermaschine, die er sich zum Spaß auf Amazon bestellt hat, übt.

Das Portfolio für seine Bewerbung hätte er eigentlich einschicken müssen. Coronabedingt wird das jetzt digital erledigt. Das Thema ist Regen. Regen ist für ihn melancholisch und fließend. David stellte sich der Herausforderung, Emotionen graphisch umzusetzen. “Meine Mutter heißt Vũ mit Nachnamen, das bedeutet übersetzt Regen. Ich dachte, es wäre das richtige Thema, um mich zu zeigen.”  Er selbst wirkt gar nicht melancholisch. Im Gegenteil, seine Erzählungen schmückt er gerne mit Witzen. Seine Stimmlage wird höher, wenn er lacht. Der Großteil seiner Arbeiten ist schwarzweiß. “Keine Ahnung, ich wollte es minimalistisch halten und es war billiger zu drucken.”

Die Flecken auf Davids Hinterkopf erinnern ihn an Tintenkleckse vom Roschachtest. Foto: Chi Nguyen
Die Flecken auf Davids Hinterkopf erinnern ihn an Tintenkleckse eines Rorschachtests. Foto: Chi Nguyen

Durch dicke Brillengläser schaut er sich um, nimmt ein Magazin in die Hand und blättert. Das ist das Herzstück seiner Mappe. “Ich finde, ein Magazin ist eine Königsdisziplin in der Designwelt, weil es so viele Aspekte visueller Kommunikation verbindet.” Besonders faszinierend findet er die Kunst der Typografie. Die Art und Weise wie Sprache visuell dargestellt werden kann und wie gleichzeitig die Form der Buchstaben schon eine eigene Botschaft beinhalten können. Seit er sich intensiv mit Design beschäftigt, hinterfragt er oft die Intention grafischer Kunstwerke, als gäbe es überall versteckte Rätsel zu entschlüsseln. 

Er streift sich öfters über den Kopf, während er überlegt. Seine Haare sind kurz rasiert. An seinem Hinterkopf gibt es kahle Stellen, an denen keine Haare wachsen. Das Muster erinnere ihn an diese Tintenkleckse, die für den Rorschachtest verwendet werden. 

Seit zwei Jahren lebt David in Berlin. Er verbrachte viel Zeit damit, Deutsch zu lernen. Lange lebte er bei einem alten Freund seines Vaters in Neukölln. Vor ein paar Monaten musste er dort ausziehen und wechselte aus einer chaotischen WG in die nächste. Auch das Zimmer im Studentenwohnheim, wo er jetzt wohnt, sieht aus, als befinde er sich in einer Übergangsphase. Er sei daran gewöhnt, Wohnorte zu wechseln. Nirgends ein fristloses Zuhause zu haben. Er zog als Kind nach Vietnam und wurde als Teenager wieder aus seinem Umfeld gerissen, als seine Eltern entschieden, dass er wieder nach Tschechien kommen sollte. Aber eine wirkliche Familienvereinigung sei das nicht gewesen. Er besuchte eine internationale Schule in Ostrava und wohnte unter der Woche in einem Wohnheim. Seine Familie, zwei Stunden entfernt, sah er nur am Wochenende.

“Diese Entscheidungen wurden schon immer für mich getroffen. Meine Eltern haben bestimmt wo ich leben soll, auf welche Schule ich gehen soll und welche Kultur für mich die beste sei. Die ersten Jahre habe ich meine Eltern sehr vermisst, aber irgendwann wusste ich nicht mal mehr, wie sie genau aussehen. Als ich zurück bei meinen Eltern war, waren sie wie Fremde für mich. Ich wusste nicht, was sie gerne essen oder was sie mögen.”

Sein Umzug und auch die Bewerbung zum künstlerischen Studium waren die ersten großes Entscheidungen, die er für sich selbst traf. “Nach Berlin zu ziehen war kein großes Ding für mich”, sagt er und zuckt mit den Schultern. Er hat das Gefühl, dass er sich als Kind nie richtig ausdrücken konnte und hofft, dass seine Stimme durch das Studium an der UdK Gehör findet. 

An seinem Schrank hängen weiße Zettel mit Mantras, die ihn motivieren sollen. “Make your dreams come true”, “Make Dad and Family proud”. David hegt keine Ressentiments gegenüber seinen Eltern, im Gegenteil. “Ich hatte so viele Gründe, es meinen Eltern übel zu nehmen, mich wegzuschicken, aber ich weiß auch, dass sie es aus Liebe taten, dass es einfach so sein musste. Jetzt unterstützen sie mich bei allem, sagen: ‘Mach das, was dich glücklich macht’.”