“Wir hatten es verlernt, jüdisch zu sein”

Original-Ausweise und späterer DDR-Reisepass von Andrée Tschesno. Foto: Victor Marquardt

Andrée Tschesno ist Jüdin. Sie ist aber auch Pariserin. Aber eigentlich ist sie vor allem Berlinerin. Ihre Lebensgeschichte ist spannend. Sie hat viel erlebt: Ein Zeitzeuginnenbericht. 

Wir waren von 1938 bis 1942 im Exil in Frankreich. Erst in Paris, wo ich geboren bin. Dann Südfrankreich, Provence, und weil es dort auch zu gefährlich für uns wurde, flohen wir über die Berge in die Schweiz. Dort sind wir getrennt interniert worden, also mein Vater, Michael Tschesno-Hell, an einem anderen Ort als ich mit der Mutter. Ende 1944 kamen wir aus den unterschiedlichen Internierungslagern frei und haben in Zürich in einer Wohnung gelebt. Nicht sehr lange, denn meine Eltern sind schon 1945 nach Deutschland zurück, während ich über ein Vierteljahr alleine bei einer Familie untergebracht wurde, weil ich noch nicht mit sollte. 

In dieser Zeit habe ich mein Französisch verlernt. Meine Eltern haben mich, als sie mich 1946 schließlich abholten, an der Grenze auf Französisch angesprochen und ich konnte nicht richtig reagieren. Ich bin dann in Berlin-Lichtenberg zur Wilhelm-Pieck-Schule gegangen. Dort waren im Wesentlichen Kinder von Emigranten, auch in der Parallelklasse. Obwohl ich Jüdin war, habe ich bis zu diesem Zeitpunkt von Antisemitismus überhaupt nichts mitbekommen. Weder an der Grundschule noch an der Oberschule. 

Als ich mich später mit ehemaligen Mitschülern getroffen habe, sagte eine: “Ich hab selbst nicht gewusst, dass ich Jüdin bin.“ Ganz so war es bei mir nicht, aber bei mir war es auch kein Thema, meine Eltern waren ja nicht gläubig, es spielte einfach keine Rolle, sie verstanden sich als Kommunisten. Auch ich war im Wesentlichen nicht Jüdin, sondern Kommunistin – und Nicht-Gläubige. 

Die Traditionen wurden nicht ausgeübt. Man ging zwar Matze kaufen und es gab Matzeklößchensuppe und Challa-Brot bei uns zu Hause, aber ich war kein Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Ost-Berlin. Zu den Festen in der Synagoge in der Rykestraße in Prenzlauer Berg bin ich schon gegangen, vor allem, wenn da Konzerte waren und Estrongo Nachama gesungen hat. Der war 1947 bis 2000 Oberkantor der Gemeinde und hatte eine irre Stimme. Ich erinnere mich daran, dass meine Großmutter hier in Berlin im Jüdischen Altersheim war und dass Kantor Nachama zu ihrer Beerdigung gesungen hat. In der Jüdischen Gemeinde bin ich auch das erste Mal wieder so ein bisschen mit jüdischen Traditionen, die es bei uns zu Hause nicht gab, in Berührung gekommen. 

Aber tatsächlich war das Jüdischsein bis auf diese wenigen Erlebnisse in der Gemeinde kein Thema. Von meinen Eltern war es vielleicht auch so gewollt. Ich bin ihnen da auch überhaupt nicht böse, dass sie mir das Jüdischsein nicht anerzogen haben. 

Meine Eltern haben sich irgendwann getrennt, als ich im jugendlichen Alter war. Ich hatte aber Kontakt zu meinem Vater, der hier in der Nähe wohnte. Aus seinen Gesprächen habe ich nicht entnehmen können, dass es da im Hintergrund etwas wie Antisemitismus gab, der auf uns abzielte. 

Er erzählte viel von seiner Arbeit. Mein Vater hatte 1947 gemeinsam mit Wilhelm Beier den Verlag “Volk & Welt” gegründet und ist dann nach einigen Jahren “gegangen worden”, wie man damals sagte, weil man ihn als Westemigranten dort nicht mehr haben wollte. Er hat viele junge Schriftsteller herangeholt, sie quasi ausgebildet. Doch mit unserer jüdischen Vergangenheit hat er sich nie beschäftigt.

1957 habe ich dann angefangen zu studieren: Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität. Das waren bei uns damals vier Jahre Studium, also bis 1961. Es war in der Zeit nicht so üblich, dass man gleich Rechtsanwalt wurde, das wäre mir lieber gewesen. Rechtsanwaltschaft war nicht sehr repräsentiert anfangs in der DDR. Ich bin dann zuerst Richter-Assistentin in Fürstenwalde geworden und 1964 Richterin in der Jugendkammer des Stadtbezirksgerichts Berlin-Mitte. Und auch da war das Jüdischsein kein Thema. Die Parteizugehörigkeit wurde rauf und runter diskutiert. Aber Religiosität – das nicht. 

Warum trotz der antifaschistischen Staatsideologie das Jüdischsein und das jüdische Leben nicht gefördert wurde, das ist wirklich unverständlich und nicht nachzuvollziehen. Ich glaube, in der Parteiführung gab es so ein bisschen Vorbehalte gegen die Juden. Die wissen zuviel, so in die Richtung, und sind eine Gefahr im Hintergrund, die könnten unseren Parteileuten am Zeug flicken. Es war ein unterschwelliger Antisemitismus, der natürlich nicht offiziell geäußert werden durfte: der wäre ja gegen die Staatsräson gewesen, aber er war eindeutig vorhanden. 

Es hat ja auch Nazis in der SED gegeben. Aber dieses Antijüdische hatte nicht unbedingt nur etwas mit Nazis zu tun, es war einfach die Angst vor der Kompetenz der Juden. Und jetzt, wo ich darüber spreche, fällt mir ein, welch große Rolle das auch am Gericht gespielt hat.  Ich wusste auch über Freunde und Kommilitonen Bescheid, dass sie jüdisch waren, aber darüber geredet haben wir nicht. In deren Familien war das Jüdischsein sicher auch kein Thema. Daher kamen wir gar nicht darauf uns auszutauschen.

Ansonsten gab es in der DDR viel Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des Holocaust. Auch durch Besuche der Konzentrationslager und die vielen antifaschistischen Filme, die in der Schule und auch an der Universität gezeigt wurden. Von der Seite aus wurde viel getan, um zu erinnern und aufzuarbeiten. Aber dass das Jüdischsein positiv beschrieben wurde, das kann ich nicht bestätigen. Sonst hätte das ja Thema sein können. War es aber nicht. 

Um nochmal zurück auf den Antisemitismus zu kommen. In Berlin gab es ihn nicht so, aber auf den Dörfern in der DDR hörte man häufig unterschwellig irgendwelche Bemerkungen und Witze über Juden.  

Meine Mutter hatte ein Problem, das sie nie bewältigen konnte. Als wir in Frankreich waren, war auch ihre Schwester, also meine Tante, mit ihrem Mann dort. Und die Mutti hat sie gewarnt, dass sie weg müssten. Sie seien in Gefahr. Aber das hat meine Tante nicht für voll genommen. “Was soll uns passieren, ich bin Sängerin”, hat sie ihr gesagt. Sie wurde nach Auschwitz deportiert und ist dort sofort bei Ankunft ermordet worden. Mein Onkel musste harte körperliche Arbeit leisten, bis er verhungerte.  Und das ist eine Sache, die meine Mutter nicht verkraftet hat. Immer die Frage: Warum habe ich überlebt und sie nicht. 

Ich habe mich vor drei Jahren einer Stolpersteingruppe in Pankow angeschlossen und mich an die Gruppe in Leipzig gewandt, wo meine Tante und ihr Mann und der andere Onkel gelebt haben. Dort werden nun im nächsten Jahr Stolpersteine verlegt für die drei. In Leipzig gibt es nicht so viele Stolpersteine wie hier in Berlin und deswegen ist das für die Gemeinde dort ein großes Ereignis. Und auch für mich ist es etwas ganz besonderes, weil ich so wieder an sie erinnern kann und an das Leid, das passiert ist. In den letzten Monaten habe ich wieder viel an sie gedacht. 

Die Aufarbeitung ist mir wichtig, deshalb engagiere ich mich jetzt mehr als früher. Auch nach Israel würde ich gerne reisen, aber das schaffe ich jetzt mit 82 nicht mehr. 

In den 90ern war ich bei einer jüdischen Hochzeit in San Francisco. Irgendeine Verwandte von mir, die Tochter hatte geheiratet, da wurde ich der Gesellschaft vorgestellt und eine der Damen meinte: “Mit einer Deutschen spreche ich nicht.” Meine Verwandte war entsetzt und sagte: “Denkst du, ich würde mit einer, die nicht zu uns gehört, Kontakt haben.” So konnte es also auch gehen, nicht wahr. Die Gegenreaktion auf Deutsche war noch sehr krass. 

Aber so waren eben die Verhältnisse. Das war so ein Erlebnis, das mir sehr stark in Erinnerung geblieben ist. Ich weiß nicht, ob das heute auch noch so wäre. 

Ich kann aber sagen, dass der Tod meiner Tante in Auschwitz nicht dafür verantwortlich war, dass wir unser Jüdischsein in der Familie nicht ausgelebt haben. Das hatte nichts miteinander zu tun. Ganz sicher.