Besonders, anpassungsfähig

Im Februar hat die dänische Musikerin Agnes Obel ihr viertes Album “Myopia” herausgebracht. Die zehn von Obel komponierten Tracks schaffen zweierlei: Sie regen zum melancholischen Nachdenken an und verschmelzen zeitgleich mit der vorherrschenden Stimmung der Menschen, die sie hören.

Screenshot aus dem Video zu Agnes Obels Song "Island of Doom".
Ein Ausschnitt des Musikvideos zu Agnes Obels Song “Island of Doom”
Foto: YouTube

Manchmal reicht es, sich nur das anzuschauen oder anzuhören, was genau vor einem liegt. Statt weit über den Tellerrand hinauszublicken, in der Tellermitte zu verweilen, und einfach mal durchzuatmen. Agnes Obels Album Myopia, fachdeutsch Myopie, umgangssprachlich Kurzsichtigkeit, schafft Raum, um in sich zu kehren und das zu betrachten, was direkt vor einem liegt – vorausgesetzt, man lässt sich darauf ein.

Wer die kürzlich erschienene dritte Staffel der Netflix-Serie Dark gesehen hat, der kennt schon einen Track aus Agnes Obels viertem Album, nämlich den Song “Broken Sleep”. In der Serie bezieht sich die Musik nicht direkt auf die Szenen, wurde nicht für die Netflix-Eigenproduktion geschrieben, wirkt aber dennoch kombiniert mit den Bildern, die über den Bildschirm flackern, passend – die musikalische Untermalung treibt die Handlung voran, und verstärkt bei den Zuschauer*innen die tragisch-melancholische Stimmung der Serie. 

Was “Broken Sleep” in Dark auslöst, passiert auch beim Hören des Albums. Obel schreibt nicht nur ihre Texte, sondern komponiert auch. Kombiniert mit ihrem Stimmeinsatz – mal hoch gepitcht, mal im Duett mit sich selbst, mal deutlich und mal langgezogen und melodischer als gesungen – kreiert Obel so ein Gesamtwerk. Im Song “Island of Doom” erschafft sie durch unterschiedliche Musikebenen eine in sich stimmige Vielschichtigkeit. Es gelingt ihr, durch Experimentierfreude vorhandene Stimmungen zu verstärken.

Die durchkomponierten Lieder auf Myopia drängen sich nicht auf, wollen die Stimmung des*der Hörenden nicht verändern, sondern bieten einen Raum, in dem die Gefühle, die schon vorhanden sind, durch die Musik verstärkt werden können. Drei der zehn Tracks sind dabei reine Instrumentalstücke, in den anderen sieben kombiniert Obel Geige, Cello, Klavier und weitere Instrumente mit ihrer Stimme. Sie zeigt, dass auch in heutiger Musik alles möglich ist, ein Klavier auch mal alleine ertönen kann, bevor sich dann, wenn passend, Geige oder Stimme dazugesellen. Verglichen mit anderen Stücken des Albums reichen bei “Parliament of Owls” ein Klavier und zwei Streicher. Wohingegen sie bei “Promise Keeper” mehrere Spuren ihrer eigenen Stimme miteinander spielen lässt.

Alles wirkt melancholisch, verspielt, aber auch ein wenig gedrückt. Durchkomponiert, aber nicht aufgedrängt. Diesen Hang zu musikalischen Spielräumen und Experimenten kennt man auch schon von Obels vorherigen Alben Citizen of Glass und Philharmonics, dennoch ist Myopia eben nachdenklicher. Es scheint, als würde Agnes Obel mit ihrer Musik die Möglichkeit anbieten, zu fühlen, zu erinnern, aber es nicht erzwingen wollen. Die Stimme verwendet die Künstlerin dabei gleichwertig wie ein Instrument. Obel zeigt eindrücklich: Es muss nicht immer von allem zu viel sein, solange es gut ist. 

Agnes Obel, Myopia, erschienen am 21. Februar 2020, 39 min. 51 Sek., Berlin: Deutsche Grammophon