“Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als eine richtige Familie gehabt zu haben”

Dorit schwelgt gerne in Erinnerungen. Mit ihren 85 Jahren hat sie viel erlebt und gesehen. Unserem Autor erzählt sie von einer behüteten Kindheit während des Zweiten Weltkriegs und von einer Entscheidung, die sie eine richtige Familie kostete.

Wir sitzen auf einer Bank am Ufer der Spreeinsel in Mitte mit Blick auf das Auswärtige Amt. Es ist der erste richtig warme Tag im Juni und ein leichter Wind weht durch Dorits weiße Haare. Erst im Mai ist die zierliche, elegante Dame 85 geworden. Wir trinken geeisten Cappuccino, den ich für uns beide an der Bar des Flussbads geholt habe und genießen den herrlichen Ort, an dem wir uns befinden.

“So etwas Gutes hab ich noch nie getrunken”, stellt Dorit fest. Sie ist offenbar noch nie zuvor in den Genuss von Eiskaffee gekommen, obwohl sie gleich um die Ecke wohnt und generell viel in Berlin unterwegs ist. Hier in Mitte lebt sie schon sehr lange, geboren ist sie aber in Lichtenberg. Am 18. Mai 1935.

Dorit beschreibt ihre Kindheit als behütet, gleichwohl sie zu ihrer Mutter kein besonders inniges Verhältnis hat. Die Familie wird nach Beginn des Krieges aus Berlin nach Masuren in ein Dorf im Kreis Sensburg, heute Powiat Mrągowski, umgesiedelt. Zwei Jahre lebt die Familie dort, ehe sie kurz vor Kriegsende nach dem Vorrücken der Sowjetarmee an der Ostfront nach Sora in Sachsen evakuiert wird – sie, ihr Bruder Harald, die Mutter und ihre an Multiple Sklerose erkrankte Großmutter, die Dorit bis heute nur Oma nennt. 

Klassenfoto aus dem Jahr 1947: Dorit und ihr Bruder Harald stehen in der zweiten Reihe
an zweiter und dritter Stelle von rechts. Reproduktion: Victor Marquardt

“Dort hatten wir’s dann ganz schön, haben vom Krieg und dem ganzen Elend eigentlich gar nicht mehr so viel mitbekommen”, erinnert sich Dorit und lässt den Blick über das glitzernde Wasser der Spree schweifen. Es ist heute schwer vorstellbar, dass man in Nazi-Deutschland überhaupt irgendwo nichts vom Krieg und seinen Nachwirkungen mitbekommen konnte, doch offenbar verlebt Dorit am neuen Wohnort eine nahezu unbeschwerte Kindheit. So beschreibt sie es mehrfach. 

Immer wenn sie von früher erzählt, leuchten ihre Augen und sie wird ganz überschwänglich. Weiß oft gar nicht, was sie zuerst erzählen soll, weil ihr die Gedanken nur so durch den Kopf schießen und die Worte aus ihr heraussprudeln. Man versucht ihr zu folgen, doch das ist nicht immer leicht, weil häufig ein Verwandter oder ein Freund der Familie, den sie irgendwann, irgendwo getroffen hat, Teil der Handlung wird. 

Nach dem Abschluss der Schule geht es für Dorit nach Freiberg an die Universität, wo sie Biologie studieren will. “Irgendwas, was mit der Natur des Menschen zu tun hat.” Das sei ihr sehr wichtig gewesen. 
Sie schließt ihr Studium aber nicht ab, und das bereut Dorit heute. Sie folgt stattdessen der Familie, die inzwischen wieder nach Berlin umgezogen ist. Doch die Situation ist keine leichte, weder für Dorit, noch für den Rest der Familie.

Die Mutter ist an Tuberkulose erkrankt und es zeichnet sich ab, dass Dorit und ihr Bruder bald allein zurechtkommen müssen.  “Ihr dürft eure Zahnbürsten nicht in meinen Zahnputzbecher stellen”, hat die Mutter immer gesagt. Das hat sich stark in Dorits Gedächtnis eingebrannt. Die Tuberkulose der Mutter ist der ausschlaggebende Grund dafür, dass Dorit sich schließlich der Medizin zuwendet. “Ich wollte immer Menschen helfen und sie wieder gesund werden lassen.”
Wie ihr Bruder Harald, mit dem gemeinsam sie die kranke Mutter bis zu deren Tod pflegt, arbeitet sie im Volkspolizeikrankenhaus Berlin: Dorit als Krankenschwester und Harald als Chirurg. 

Dorit erweckt immer ein bisschen den Anschein, als würde sie in der Vergangenheit leben. Es ist nicht so, dass sie die Gegenwart nicht interessiert. Sie ist stets über aktuelle Geschehnisse informiert und interessiert sich für vielerlei Dinge. Doch man hat das Gefühl, dass sie sich vor allem gern an früher erinnert und immer ein wenig wehmütig wird, wenn sie an vergangene Zeiten denkt, beispielsweise jene vor ihrer letzten Ehe.

Ihren zweiten Ehemann lernt sie über eine Zeitungsannonce kennen. Lothar, der anfangs noch sehr charmant ist, entpuppt sich als herrsch- und streitsüchtiger Ehemann, dem nichts, aber auch gar nichts recht zu machen ist. Aus dieser Ehe mit Lothar resultiert auch ein schleichend schlechter werdendes Verhältnis zwischen Dorit und ihrem aus erster Ehe stammenden Sohn. Als der 17 Jahre alt ist, kommt es zum Bruch. Er zieht von Zuhause aus. Genaugenommen ist er gezwungen auszuziehen, da Dorits neuer Ehemann gegen einen engen Kontakt zwischen Mutter und Sohn ist. 

Dorit trägt gern knallige Farben. Foto: Victor Marquardt

Lothar stellt ihr ein Ultimatum: entweder ihr Sohn oder er. Eine Mutter vor solch eine Entscheidung zu stellen, das war für Dorit keine einfache Situation. Tatsächlich entscheidet sie sich für ihren Ehemann. Aus Angst, allein zu sein, wie sie sagt. 
Mehr und mehr isoliert ihr dominanter Ehemann Dorit vom Rest der Familie. Der Kontakt zu ihrem Sohn, ihrem Bruder und Freunden bricht über 35 Jahre vollständig ab. “Wie im Gefängnis”, beschreibt sie das Erlebte. 

Wenn Dorit von ihrem Sohn erzählt und was sie beide für eine Beziehung miteinander haben, wirkt sie sehr geknickt. “Ich hab viel falsch gemacht, die falschen Entscheidungen getroffen”, stellt sie fest und blickt wieder auf das blitzende Spreewasser. Sie nimmt einen großen Schluck aus dem Kaffeebecher, der neben ihr auf der Bank balanciert. 

Sie schildert die Situation von damals auch heute noch als eine Zwickmühle. Einerseits wollte sie ihren Sohn, der gerade 17 Jahre alt war, nicht vor die Tür setzen, andererseits war sie froh, dass sie nach einer gescheiterten Ehe und vielen folgenden Fehlschlägen mit Männern einen Ehemann hatte, der sie begehrte. Darauf konnte sie nicht verzichten, beschreibt Dorit das aus ihrer Sicht schwierige Dilemma. Dass die Entscheidung, ihren Sohn rauswerfen zu lassen, aus heutiger Sicht ein riesiger Fehler war, räumt sie mit bedrückter Miene ein. 

Der Wendepunkt in Dorits Leben ist erreicht, als ihr Ehemann 2015 stirbt. Sie ist frei. Frei von allen Einschränkungen, die diese Ehe mit sich brachte. Sie kann nun wieder den Kontakt zu ihrem Bruder aufnehmen – und auch zu ihrem Sohn. 

Fünf Jahre ist es nun her, dass Dorit wieder anfangen konnte selbst zu entscheiden, wo sie hingeht und wen sie trifft. Die Beziehung zu ihrem Sohn ist auch heute nicht wirklich enger geworden. Zu groß ist wohl der Schmerz, den er verspürt, vermutet Dorit. Ob das noch einmal etwas wird? Sie hat keine Antwort darauf. “Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als eine richtige Familie gehabt zu haben.”