07. August 2020
Anna-Lena SchlittBauchgefühl flau, Zukunft ungewiss

“Scheiße”, sagt Liv und zündet sich noch eine Zigarette an. “Es ist ja nicht so, dass man als schauspielende Person angemessen bezahlt werden würde – und jetzt das.” Dieses “das” meint die allgegenwärtige Pandemie und hat den Studierenden des vierten Jahrgangs Schauspiel einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. Im Oktober machen sie ihren Abschluss – in einer Zeit strenger Abstandsregeln, digitaler Seminare und geschlossener Theater. Eine dieser Studierenden ist Liv Stapelfeldt. “Man ist daran gewöhnt, zu wissen, worauf man hinarbeitet – und plötzlich weiß man gar nichts mehr”, sagt sie missmutig. Von den Bäumen ringsherum tropft es. Gerade noch hat es geregnet.
Als sie das Wort “Corona” zum ersten Mal hört, ist sie gerade in Essen. In “Die Rundköpfe und die Spitzköpfe” soll sie auf der Bühne stehen – ihre erste Produktion an einem staatlichen Theater. Nach einer Woche wird alles auf Eis gelegt. Livs Enttäuschung ist groß und auch jetzt, wenn sie davon erzählt, noch deutlich zu spüren. Dann startet ihr letztes Semester. Die Universität der Künste Berlin beginnt es digital. Statt aus Proben besteht ihr Alltag plötzlich aus Videokonferenzen. “Das hat mir schon nach zwei Wochen gereicht! Der eine ist total verpixelt, der andere hat gar keine Kamera…” Sie klingt genervt. “Es ist auch alles nur Zuhause!” In ihrer WG zu proben, ist für die 22-Jährige unvorstellbar. “Da braucht man Sachen, die man zerstören kann und Wände, gegen die man laufen kann”, lacht sie. “Wenn ich wegen der Nachbarn leise sein muss, kann ich es auch gleich lassen.”
Endlich zurück auf die Bühne
“Schauspiel lässt sich nur mit Einschränkungen digital lehren und ausüben”, erklärt Livs Studiengangsleiterin Prof. Marion Hirte. Grund- und Kerngeschäft des Studiums sei das Spielen im Raum mit Partnerbezug vor Publikum. Das sei digital nicht zu ersetzen. In Zusammenarbeit mit der Hochschulleitung gelang es dem Studiengang, Ausnahmeregeln gegen den absoluten Shutdown der Hochschule zu erwirken. Seit dem 25. Mai können die Studierenden des Abschlussjahrgangs wieder zusammen mit ihren Rollenlehrer*innen proben.
Auch darf Liv endlich wieder zurück auf die Bühne – genauer gesagt auf die Probebühne der Uni unweit des Kurfürstendamms. Bevor der Unterricht losgeht, heißt es aber erst einmal Hände desinfizieren und einchecken. Die Namensliste auf dem Tisch im Flur dokumentiert, wer sich zu welchem Zeitpunkt in den Räumen aufgehalten hat. Dann geht es los. Geprobt wird “Vorher/Nachher” von Roland Schimmelpfennig: “Der Organismus ist nicht in der Lage, zwischen belebter und unbelebter Materie zu unterscheiden – aber: Er sieht Schallwellen!” Während Liv auf der einen Seite der Bühne spielt, gibt Schauspieler Bernd Moss, ihr Dozent, von der gegenüberliegenden Seite der Bühne Ratschläge. Liv übt für das Absolvent*innenvorsprechen im Herbst einen Monolog. Partnerszenen stehen bisher noch nicht auf dem Stundenplan. Und wenn doch zu zweit geprobt wird, müssen die Akteur*innen mindestens sechs Meter Abstand halten. Mehr Kontakt ist gerade nicht erlaubt. Für den Fall, dass sie sich doch mal näherkommen müssen, gibt es Plastikvisiere.
Plötzlich schrillt ein Handywecker. “War‘s das schon?”, fragt Liv überrascht. Die eineinhalb Stunden sind viel zu schnell vorbei. “Sonst haben wir auch mal bis 23 Uhr geprobt, jetzt müssen wir um Punkt 19.30 Uhr raus”, Liv wechselt vom Probenkostüm ins rote Sommerkleid. Nachdem sie sich umgezogen hat, muss noch ein Termin für die nächste Probe gefunden werden – und ein Raum. Gar nicht so einfach. Klebezettel an den Fenstern erinnern: Das Lüften nach der Probe nicht vergessen! “Immerhin haben wir ein bisschen was geschafft.” Die beiden verabschieden sich. Immerhin, das scheint das Wort der Stunde zu sein: Immerhin dürfen wir wieder proben. Immerhin zu zweit. IMMERHIN.
Liv findet das digitale Semester anstrengend. Statt wie sonst auf der Probebühne hat sie ihre Texte mit Schauspielerin Ruth Reinecke per Videocall vorbereitet. Acht Mal hat Liv mit ihr telefoniert, bis sie endlich auf der Bühne stand. Da sei sie wie aus dem Tiefschlaf erwacht: “Ich wusste gar nicht mehr, wie das geht. Ich habe körperlich gemerkt, dass ich das lange nicht gemacht habe”. Das bestätigt auch Marion Hirte. So ausgebremst zu werden, habe die Studierenden wahnsinnig lethargisch gemacht. Zurück in den Trainingsmodus zu kommen, sei schwer. Die Studierenden seien noch nicht wieder auf dem Trainingsniveau von vor dem Lockdown, stellt sie fest.
Not macht erfinderisch
Auch der Bewegungsunterricht findet derzeit hauptsächlich digital statt. “Dann liegen alle auf ihrer Matte und haben die Kamera auf sich gerichtet”, lacht Liv. “So kann unsere Dozentin die Bewegungsabläufe kontrollieren.” Während Feldenkrais-Methode und Thai Chi in Videokonferenzen ganz gut funktionieren, ist Akrobatik, Tanzen oder Fechten in den eigenen vier Wänden nicht umsetzbar. Doch Not macht erfinderisch: Die Studierenden haben ihren Unterricht nach draußen verlegt. Während die einen im Park fechten, drehen die anderen auf einem freistehenden Open-Air-Gelände einen Film – natürlich mit Abstand. “Immerhin etwas!”, sagt Liv, “Es tut gut, was zu machen – nach den ganzen Absagen.”
Absagen hagelt es in diesem Semester viele. Die Studierenden stecken gerade mitten in der Entwicklung einer eigenen Inszenierung, als die Hochschule die Präsenzveranstaltungen einstellt. Alle hatten sich darauf gefreut, endlich einmal Theater nach den eigenen Vorstellungen zu machen. Und dann wird auch noch das Schauspielschultreffen in Hannover abgesagt. Beides ist “wahnsinnig wichtig für die künstlerischen Biografien der Studierenden”, sagt Marion Hirte. Das Schauspielschultreffen biete den Studierenden eine gute Gelegenheit sich untereinander zu vernetzen und Kontakte zu Dramaturg*innen und Intendant*innen zu knüpfen – “jenseits dieser blöden Vorsprechsituation” im Oktober, findet Liv.
Zwischen Angst und Zuversicht
Das Absolvent*innenvorsprechen im Oktober ist der krönende Abschluss eines jeden Schauspielstudiums – von den Studierenden freudig erwartet und doch gefürchtet. Hier können sie vor Intendant*innen und Dramaturg*innen beweisen, was sie im Studium gelernt haben. Läuft alles glatt, folgt hierauf “der sagenumwobene Anruf” – wie Liv ihn nennt – und ein Engagement.
Normalerweise sitzen bei diesem Vorsprechen etwa 400 Menschen im Zuschauerraum des UNI.T, des Theatersaals der Universität der Künste. In diesem Jahr werden nur 30 Zuschauer*innen dabei sein – mehr sind nicht erlaubt. “Das sind viel zu wenige” – wenn es nach Liv und den anderen Studierenden geht. Deshalb wird der Jahrgang die Monologe in diesem Jahr bis zu zehn Mal aufführen. Platz für Freunde und Familie im Publikum ist dennoch nicht. Und ob die jungen Schauspieler*innen engagiert werden, ist fraglich.
Denn dass die Theater in der gegenwärtigen Situation keine neuen Ensemblemitglieder aufnehmen werden, darin ist sich Liv sicher. “Die müssen erstmal gucken, wie sie ihre eigenen Leute zusammenhalten”, sagt sie mit Blick auf die schwierige Finanzlage der Theater. Wer den Absprung nach dem Studium nicht schafft, für den wird es schwer, in der Theaterwelt Fuß zu fassen: “Da bekommt man halt Schiss.” Livs Stimme klingt angespannt. Der Rauch ihrer Zigaretten hängt in der diesigen Gewitterluft.
Trotz dunkler Wolken am Horizont – bereut hat Liv ihr Studium nie. Gestern war sie seit langer Zeit mal wieder im Deutschen Theater, genauer gesagt davor. Sie konnte Premierenkarten für “Die Pest” ergattern. Und als sie vor dem Theater saß und endlich mal wieder klatschen durfte, da habe sie gemerkt, dass das wirklich ihre Leidenschaft ist. “Ich spüre das körperlich, dass ich das brauche, dass mich das glücklich macht.” Ihre Augen strahlen. “Gerade in solchen Zeiten merkt man doch, wie sehr eine Gesellschaft Kultur braucht.” Während Liv das sagt, blinzeln vorsichtig ein paar Sonnenstrahlen durch die Wolken.
Diese Reportage ist am 16. Juli 2020 in der Tagesspiegel-Beilage der Universität der Künste Berlin erschienen: https://www.tagesspiegel.de/themen/udk/studiengang-schauspiel-bauchgefuehl-flau-zukunft-ungewiss-/26004788.html.