10. August 2020
Fernanda ThomeIn der Berliner Pampa

Das Projekt der neuen Gesellschaft für bildende Kunst „KREISE ZIEHEN – Großsiedlungen und die Produktion von Bildern ihrer selbst“ im Ost-Berliner Plattenbaugebiet Hellersdorf fragt danach, ob Kunst und Kultur die negative Wahrnehmung von Großwohnsiedlungen am Stadtrand zum Besseren verändern können.
Feindselig, provinziell und überwiegend weiß: Das ist das Stereotyp über Hellersdorf, das ich erwarte, als ich mitten in der Pampa ankomme. Da es sehr heiß ist, suche ich als erstes nach einem Späti, um den Durst zu löschen. Es gibt nur einen Dönerladen und einen PENNY hinter dem U-Bahnhof Cottbusser Platz. In den ruhigen Straßen, durch die ich gehe, sehe ich nichts. Nur Plattenbau neben Plattenbau.
Seit 2018 nutzt das Ausstellungsprojekt KREISE ZIEHEN – Großsiedlungen und die Produktion von Bildern ihrer selbst des Kreuzberger Kunstvereins nGbK Kunst und Kultur als Mittel zum Experimentieren und Entdecken dieser fern vom Zentrum gelegenen urbanen Ballungsräume. Dabei geht es darum, ein Bild von innen heraus entstehen zu lassen – und nicht umgekehrt. “In sehr vielen Großwohnsiedlungen am Stadtrand ist die Außenwahrnehmung negativ geprägt. Sichtweisen von außen konstruieren sich meistens aus negativen Schlagzeilen in den Medien, die zur Verallgemeinerungen führen”, erklärt Adam Page, der zusammen mit Eva Hertzsch und Jochen Becker die station urbaner kulturen-Stelle der nGbK im Bezirk leitet. Die große, offene Grünfläche, auf der in diesem Sommer Teil 4 des Projekts stattfindet, heißt Place Internationale, ein Ort, der Freizeit und Kultur gewidmet ist – eine Initiative der station urbaner kulturen.
Als ich dort ankomme, treffe ich nur zwei Personen, die sich um die Ausstellung kümmern. Einer von ihnen ist Lutz Reineke, ein engagierter älterer Bewohner des Viertels, der mich zum Kaffee einlädt. “Es gab viele Freiflächen wie diese. Aber sie verschwinden”, sagt Lutz über den Place Internationale. Seit 2016 ist dies einer der seltenen Begegnungsorte in Hellerdorf, der vor allem von Jugendlichen und Flüchtlingskindern genutzt wird, die in der ehemaligen Schule gegenüber wohnen. Gefragt nach dem Verhältnis zwischen diesen und anderen, älteren Bewohnern, antwortet Lutz: “Es gibt nicht viel Austausch.” Gerade der wachsende Mangel an solchen Orten, so Lutz, habe dazu geführt, dass sich die lokale Jugend zunehmend zu Hause versteckt, nur noch über das Internet kommuniziert und häufig einen rechtsradikalen Weg einschlägt.
In Teil 4 von KREISE ZIEHEN sind über die wilde Sommerwiese verstreute Billboards. Es sind Filmstills aus einem Video, das 1971 im Märkischen Viertel, der größten Neubausiedlung im damaligen West-Berlin, entstanden ist. Auf ihnen sieht man Szenen aus FEST, ein spielerisches Stadtmodell, das von Künstlern für und mit Kindern geschaffen wurde, um ein Erlebnis zu vermitteln, das zugleich urbane Themen wie Immobilienmarkt und Revolution verhandelte. Damals ging es – wie beim aktuellen Projekt – darum, die Bewohner zu mobilisieren und auf die mangelnden Investitionen der West-Berliner Regierung in die Kultur- und Kunstlandschaft der Arbeitervorstädte aufmerksam zu machen.
Die Billboards erzeugen einen Spiegeleffekt. Der Gegenwart gegenübergestellt reflektiert das eingefrorene Bild des Märkischen Viertels von 1971 Parallelen und Defizite in Bezug auf die Hellersdorfer Plattenbauten. Es entsteht eine Vorstellung von Kontinuität, die uns dazu anregt, nicht nur über das nachzudenken, was in den letzten 50 Jahren geschehen ist, sondern auch über das, was in den nächsten 50 Jahren geschehen kann. Im Rahmen der Ausstellung versammelt das Projekt Die Pampa lebt die Visionen der Bewohnerinnen und Bewohner in Bezug auf die Transformationen, die vom Bau der Großsiedlung über die Folgen des deutschen Wiedervereinigungsprozesses bis hin zu den aktuellen Auswirkungen des Immobilienmarktgeschehens im Bezirk reichen.
Seit 2019 wirft die künstlerische Recherche gemeinsam mit Anwohnern Fragen zu Hellersdorf auf. Etwa: “Welche Hoffnungen, Ängste, Glücksversprechen und Kränkungen gab es hier in den 1990ern. Und heute?” oder “Welche Auswirkungen haben Abriss und Rodung?” In Mappen aufgeteilt, zeigen die Antworten nicht nur lokale Frustrationen, sondern auch die oft unsichtbaren, aber weitreichenden Folgen der Durchsetzung von Interessen des Marktes bei gleichzeitiger Gleichgültigkeit gegenüber den Mietern. An Krieg erinnernde Fotos aus der Zeit, als Teile des Viertels zum Abriss standen und Brachen abgeholzt wurden, wechseln sich mit aktuellen Zeugenaussagen ab. “Mein Sohn war drei, als wir 1990 hierher gezogen sind. Er ist hier groß geworden und er lebt hier noch. Seine ganze Vergangenheit wurde abgerissen, Stück für Stück für Stück”, sagt einer von ihnen, während ein anderer erklärt: “Das ist eine psychologische Pleite, (…) daher kommt die Gewalt im Bezirk.”
Nach sechs Jahren intensiver künstlerischer Arbeit in der Großsiedlung hat die station urbaner kulturen heute ein völlig anderes eigenes Bild des Bezirks als zuvor. Auch meines hat sich in diesen wenigen Stunden verändert. “Der Stadtteil Hellersdorf hat fast 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Er ist dementsprechend vielfältig. Es drängen aber wenig Bilder der Vielfalt nach außen durch”, sagt Adam Page. “Ein Grund dafür könnte sein, dass es nur wenige Orte in Hellersdorf gibt, die Bilder von sich produzieren. Es sind zu wenig Theaterräume, Kunsträume und Konzertsäle.” Er klagt auch über die mangelnde Einbeziehung der Peripherie in die städtische Kulturpolitik.
Wie in der Ausstellung zu sehen ist, werden Beschwerden, wie sie 1971 von den Bewohnern des Märkischen Viertels vorgebracht wurden, auch heute noch selten gehört. Und doch hat das, was in diesen Randgebieten geschieht, große politische Wirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes. Projekte wie KREISE ZIEHEN bauen Brücken. Zwischen den Bewohner*innen des Viertels, zwischen den peripheren Kreisen, zwischen dem Zentrum und den Stadträndern. Es ist Zeit, diese Brücken zu nutzen und aufzuwerten. Davon profitieren wir alle.