24. August 2020
Trisha BalsterWas ist überhaupt Talent?
Der Mythos rund um Talent und Hochbegabung betrifft Kunststudierende und Kreative genauso wie Sportler*innen oder Wissenschaftler*innen – doch kaum etwas lässt sich so schwer bewerten, messen, oder kategorisieren.
Der Duden definiert Talent als “Begabung, die jemanden zu ungewöhnlichen bzw. überdurchschnittlichen Leistungen auf einem bestimmten, besonders auf künstlerischem Gebiet befähigt”. Das Oxford Dictionary versteht unter dem Adjektiv “talented” eine natürliche Fähigkeit, etwas gut zu beherrschen oder ausführen zu können. Die Modedesign-Studierenden Camilla Volbert und Justin Rivera haben ihre eigenen Interpretationen: Privilegien und Perspektiven. Im Interview erzählen sie von ihrem Verständnis von Talent, Erfahrungen mit kreativem Druck und was Mode für sie bedeutet.

Justin C. Rivera
22, studiert Modedesign im 6. Semester an der Kingston University in London, macht ein Auslandssemester an der Universität der Künste Berlin.
“Talent manifestiert sich auf sehr unterschiedliche Weisen. Am Ende hängt es mit Perspektiven zusammen. Für mich ist eine talentierte Person jemand, der neue und gute Lösungen entwickeln kann für die Probleme, mit denen wir uns gerade auseinandersetzen müssen. Nicht bloß neue Ideen hat.
Als Semesterprojekt haben wir eine Tischdecke bekommen. Meine habe ich gefärbt und dann aus dem Stoff ein Dreieck geschnitten, das man um den Körper wickeln kann. Je nachdem, wie man es knotet, können verschiedene Kleidungsstücke entstehen – eine Shorts, ein Top, ein Rock. Ich wollte keinen unnötigen Stoff verschwenden und nachhaltig arbeiten. Also habe ich mich gefragt, wie ich die Lebensdauer und Variationsmöglichkeiten eines Kleidungsstücks erhöhen kann. Außerdem können Männer und Frauen, unabhängig von ihren Konfektionsgrößen, das Dreieck tragen, was genau meinem Design-Ethos entspricht.

Corona hat mich dazu gezwungen, mich auf mich selbst und meine Fähigkeiten zu verlassen. Vorher habe ich sehr auf die Meinungen anderer vertraut. Am Anfang war das eine Herausforderung, weil ich mich mit vielen mentalen Dingen auseinandersetzen musste, bevor ich an diesen Punkt gekommen bin. Es wurde zu einem Teil meines Arbeitsprozesses – durch die Not und die Kämpfe in meinem Kopf zu arbeiten. Besonders die vergangenen zwei Monate waren sehr schwer, aber ich hatte viel Unterstützung und die Black-Lives-Matter-Bewegung an meiner Seite. Viele der Leute, die ich während der Corona-Zeit virtuell kennengelernt habe, können meine Perspektive als Schwarze Indigene Person of Color nachvollziehen. Gerade die kreative Szene ist sehr elitär und whitewashed. Obwohl so viel Mode mittlerweile eigentlich von People of Color kreiert wird. Es tut gut, mit Menschen zu sprechen, die den gleichen Antrieb und die gleichen Ziele haben: dieses System auf unsere eigene kleine Weise zu zerlegen.
Ich überlege, wie ich der nächsten Generation ein anderes Bild der Branche vermitteln kann. Nicht diese toxische Mentalität, mit der wir groß geworden sind. Als Jugendlicher hat mich an der Modebranche vor allem der Lebensstil gereizt. Ich bin mit dieser oberflächlichen Instagram-Welt aufgewachsen. Aber sobald ich in diese kreative Szene eingetaucht war und die Menschen kennengelernte, die ich vorher bewundert hatte, habe ich gemerkt, dass das nicht alles ist. Aber ich habe das Gefühl, unsere Generation ist schlau genug zu erkennen, dass wir diese egoistischen Denkmuster durchbrechen müssen.

In Berlin bin ich sehr gewachsen. Ich fühle mich nun gut damit, mich einen Performancekünstler zu nennen. Vorher war ich sehr unsicher, wie ich mich definieren und anderen gegenüber darstellen soll. Mode hat mir dabei geholfen, meine eigene Identität zu finden. Ich habe dadurch viel über Geschlechter- und Identitätspolitik gelernt.
Jetzt geht meine Auseinandersetzung darüber hinaus – ich frage mich, wie ich die Welt prägen kann und was ich aussagen möchte. Jeder trägt Kleidung, es ist also eine Möglichkeit, seine Ideen zu kommunizieren und Grenzen aufzubrechen.
Wenn man Modedesign machen will, muss man sich mit vielen Zurückweisungen auseinandersetzen. An der Kingston Universität zu studieren, war eigentlich meine zweite Wahl – am liebsten hätte ich Mode am Central Saint Martins College of Art and Design studiert. Leider wurde ich aber zwei Mal abgelehnt. Ich hoffe, die Art und Weise zu kritisieren, wird sich ändern. Sie ist schrecklich, sie zieht Leute runter. Irgendwann dachte ich mir, okay, wenn ihr mich nicht wollt, dann eben nicht. Man muss Stärke entwickeln, um mit Ablehnung klarzukommen. Dann kann man auch sagen: Ich habe Talent. Ich bin gut genug, und ich brauche niemand anderen, der mir das sagt.“

Camilla Volbert
24, studiert Modedesign im 6. Semester an der Universität der Künste Berlin.
“Im Studium habe ich immer Druck verspürt, Talent haben zu müssen. Das fängt ja schon mit der Aufnahmeprüfung an. Es ist doch absurd, zu denken, dass man in dieser einen Prüfung zeigen kann, ob man den Rest seines Lebens als Designer arbeiten kann oder nicht. Modedesign basiert so stark auf Privilegien und ungerechten Systemen. Vielleicht hat eine Person nicht mehr Talent – sondern nur mehr Privilegien.
Ich habe das Privileg, etwas zu studieren, womit ich nicht unbedingt sofort Geld verdiene – und das auch nur, weil meine Eltern mir beigebracht haben, das Selbstvertrauen darin zu haben. Wäre ich in einer anderen Situation, hätte ich vielleicht nicht einmal versucht, Modedesign zu studieren, weil ich gedacht hätte: Wofür, ich kann damit ja gar kein Geld verdienen. Zu wissen, dass man diese Entscheidung treffen kann, ist ja auch schon ein Privileg.
Was gutes und was schlechtes Design ist, ist eine subjektive Wertung. Häufig wird von Dozierenden danach bewertet, ob man in seinem Prozess konsequent ist. Ob man dazu in der Lage ist, das, was man mit seinem Konzept sagen will, auch visuell zu übermitteln. Das finde ich aber auch fragwürdig, denn nur durch gesellschaftliche Codes ist darin ja das eine zu lesen und das andere nicht.

Deshalb gebe ich auch quasi das Entwerfen ab. Mir kam die Idee zu Falltexten, weil ich eine Möglichkeit finden wollte, durch die ich andere in den Designprozess einbinden kann. Ich habe Freunden gesagt, dass es darum geht, ein Kleidungsstück zu beschreiben – jeder kennt aber nur den jeweils vorigen Satz, den ich ihnen geschickt habe. Ich bin die einzige, die den ganzen Text hat.
Ich habe ihnen auch nie gezeigt, was ich schon gemacht habe, damit sie nicht versuchen, etwas in einen Kontext einzuordnen. Sie sollten frei schreiben, was sie sich vorstellen. Der erste Satz war: Eine kleine lila Tasche aus Filz.
Die Tischdecke, die unser Semesterprojekt ist, bildet die Grundlage. Den Rest der Materialien habe ich auf der Straße gefunden. Wie diesen Pulli, aus dem ich eine Tasche genäht habe. Bei einem Text ging es darum, dass die Tasche eine Gardine hat und einen pastellregenbogenfarbenen Bügel. Ich habe zwar keinen Taschenbügel auf der Straße gefunden, aber einen BH, also habe ich dann den BH-Bügel genommen. Die nächste Person hat große Ärmel und karierten Stoff eingebracht. So verändern sich die Kleidungsstücke immer wieder und es kommen neue dazu.
Es geht mir nicht darum, dass es hochwertig oder gut genäht aussieht – sondern um ein Erfahren davon, was ich eigentlich mache. Und darum, mir die Wertung zu nehmen, das ist jetzt richtig, das ist falsch. Das ist gut, das ist schlecht. Ich trenne nichts wieder auf, sondern nehme es so hin, wie es ist.

Manchmal habe ich das Gefühl, wenn man sich zu sehr mit Kunst beschäftigt, ist man gar nicht mehr in der Lage, intuitiv zu sagen, was einem gefällt oder nicht. So geht es mir auch ein bisschen bei Modedesign. Ich kann alles in einen Kontext stellen und glaube manchmal, ich weiß zuviel. Das schränkt mich ein, dann versuche ich rationale Urteile zu treffen, und das will ich ja grade nicht.
Ich glaube auch, dass die Vorstellung von Designern, die irgendwie alleine arbeiten, total fiktiv ist. Wenn man zusammenarbeiten kann, hilft das nur. Ich brauche den Rückhalt, und manchmal auch ein bisschen Bestätigung, dass das okay ist, was ich mache. Je mehr man im Studium voranschreitet, desto mehr fängt man natürlich auch an, sich zu vergleichen.
Ich schrecke immer ein bisschen davor zurück, mir Vorbilder zu suchen, weil mich das eher einschüchtert, als dass es mir etwas bringt. Dann denke ich, die sind eh viel besser, und frage mich, wieso ich das überhaupt mache. Auch mit diesem kreativen Druck während der Corona-Zeit konnte ich nichts anfangen. Wenn es mir okay ging, dann war ich damit zufrieden.”