09. September 2020
Serafin DingesVeggie Bingo
Mit ihrem Debütalbum “Fly or Die” und dessen Fortsetzung “FLY or DIE II: bird dogs of paradise” hat die Trompeterin Jaimie Branch Jazzgeschichte geschrieben. Das Album “Tour Beats Vol. 1” von ihrem Projekt “Anteloper” ist ein Commitment zu ihren psychedelischeren Seiten.

Es gibt seltene Momente, in denen ein Virus, das sonst Abstand fordert, uns Gelegenheiten zur Nähe bietet – wäre es doch sonst unmöglich, bei einem Albumrelease am anderen Ende der Welt dabei zu sein. So geschehen am Mittwoch, 1. Juli, um 20 Uhr als das Duo Anteloper im Chicagoer Club Hideout ihr neues Album Tour Beats Vol. 1 per Livestream vorstellte. Aber: Zeitverschiebung ist kompliziert. Bei dem Versuch die Videoschalte des Konzerts zu bekommen, habe ich stattdessen eine Stunde Veggie Bingo aufgenommen, veranstaltet von einer Kleingartengemeinschaft im selben Livestream vor dem Konzert. Dieser unerwartete, intime Einblick in das Bingospiel fremder Personen ist eine angemessene Metapher für das später präsentierte Album: Etwas chaotisch, etwas Lo-Fi, und charmant risikoarm. Und wie die Kuchen in Form von Dungeons & Dragonsfiguren (die die Gewinnerin der dritten Bingorunde, Marianne, vor Kurzem gebacken hat): sehr nerdy.
Tour Beats Vol. 1 ist ein Dialog, präsentiert als aufgeregte Collage, bei der man erst nicht recht weiß, wohin hören. Über vier Lieder und gut zwanzig Minuten begleiten sich hier Jaimie Branch an Trompete und Jason Nazary am Schlagzeug gegenseitig, untermalt von einer Reihe futuristischer Synths, Loops und Filter.
Psychedelisch ist es allemal, implizit und explizit: Der zweite der vier Titel heißt “Isotope 420” – eine kaum versteckte Andeutung an die Inspirationsquelle Marijuana (420 gilt seit den 80ern als Bekennungszeichen zum Kiffertum). Das klingt wie ein Ufo – gefangen in einer dunklen, tropfenden Höhle; die verzweifelten Beeps des Bordcomputers hallen von den Wänden, während eine einsame Jamie Branch Trompete spielend nach oben gebeamt wird. Gleichzeitig sitzt weit weg jemand in einem Wohnzimmer und spielt Schlagzeug. Durch die verschiedenen Echos, die nur über einzelne Instrumente gelegt werden, ergeben sich unterschiedliche akustische Räume, die nebeneinander existieren. Je nach Fokus entsteht ein neuer Winkel zur Betrachtung des Kippbildes.
Das zweite gemeinsame Album von Jaimie Branch und Jason Nazary ist kein Fly or Die – mehr Experiment als Botschaft, ein Werkstattgespräch vielleicht – oder ein Bingospiel in der Kleingartengemeinschaft. Aber vielleicht gerade deshalb ist es umso mehr eine Demonstration ihrer Talente.