11. September 2020
Nils Erich1928: Eine Ufergeschichte
Teil 1: Die Brücke
Admiral. Ja, Admiral sein und weit weg von hier. Von all dem Licht und dem Lärm. Den schreienden Kindern, den skandierenden Sozen und Nazis, von den Pferden, über deren Mist die Tram hinwegfuhr, von den Marktschreiern und dem ganzen Moloch hier überhaupt. Edel wäre das, so ein Admiral zu sein, mit einer reinen Uniform und einer großen Mütze und mit goldenen Beschlägen auf der Schulter. Die Hand an der Stirn zum Gruß erhoben gen sternenloser, düsterer Nacht.
Wenn der Wind nicht säuselt oder zischelt oder braust, sondern ganz still über dem Meer liegt, dann Admiral sein. Wenn alle schlafen außer dem Kochsmaat, der unten in der Küche ein paar Makrelen aus dem Salz klaut. Admiral sein, darum zu wissen und das zu dulden, ein wenig missmutig, aber gönnerhaft. Wer kocht, der soll auch essen.
“He, Admiral!”, schallte es von rechts. Martha drehte sich um. Da war keiner. Jedenfalls nicht im Lichtkegel der großen gusseisernen Laternen mit ihrem elektrischen Licht. Beunruhigt drehte sie sich nach links. Keiner war mehr unterwegs. Nur ein paar der streikenden Hafenarbeiter saßen noch um ein kleines Feuer und soffen Spiritus.
Vielleicht sollte sie gehen. Nicht träumen, sondern schlafen. Vielleicht in einem Bett wie früher, als Großmutter die warmen Backsteine vom Ofen nahm und unter die Decken steckte. Oder vielleicht sollte sie in eine Bar gehen und sich wem anbiedern. Vielleicht würde man sie aber auch wieder rauswerfen. Vielleicht sie gar nicht erst reinlassen in ihrem dreckigen Kleid und ohne den schönen Schmuck, den selbst die verbittertsten Witwen zur Schau stellten.
Admiral sein und sich um all das nicht kümmern. Weit draußen auf dem Meer, und jeden Tag gibt es Fisch und in der Südsee auch mal eine Kokosnuss. Wie wohl Kokosnuss schmeckte? Ein Admiral weiß, wie Kokosnuss schmeckt, und wie Banane schmeckt und die anderen exotischen Früchte. Ein Admiral, der hat schon mal Champagner getrunken und weiß, wie ein Telefon funktioniert.
“He, Admiral!”, schallte es. Martha blickte sich um, ein bisschen hektisch. Guckte in die Luft, über das Geländer auf das Wasser, auf das das Laternenlicht lustige Muster malte. Hier war keiner, keiner der sprechen konnte. Einsamkeit, das ist, wenn selbst die eingebildeten Freunde sich nicht mehr blicken lassen. Der Wind strich über die Kähne im Hafen und Marthas müdes Gesicht mit den geschlossenen Augen.
Teil 2: Das Bett
Frau müsste man sein. Eine von denen, so eine mittellose, dumme Frau vom Land, die nichts kann außer nähen und kochen und blöd grinsen und dabei die schiefen Zähne zeigen. Ja, einfach Frau sein und schon wär man gesichert, so von der Existenz her, hätte ein eigenes Zimmer für so hundert und zwanzig Mark im Jahr und eine Toilette auf der Etage und könnt’ sich jeden Tag bekochen lassen. Und dann geht man zum Wertheim am Moritzplatz und kauft sich einen Fotoapparat und macht schöne Bilder von den Herrschaften vor den Lichtspielhäusern, ja wenn man nur ‘ne Frau wär.
So lag Helmuth griesgrämig wach und versuchte, das Ziepen und Stechen und Beißen der Bettwanzen nicht zu bemerken, und dass dieser kleine Lausebengel neben ihm genussvoll an Helmuths rechtem Daumen nuckelte. Und dass die Hedwig mit den Töpfen klapperte und der alte Härtel ruhelos in der Wohnung auf- und ablief. “Wie soll das bloß werden, wie soll das denn gehen, wo sollen denn all die Menschen hin, wie konnte das passieren, was sollen wir denn bloß tun, was sollen wir tun”, murmelte der Härtel und rieb sich die Brandblasen am linken Arm auf.
Warum konnte Helmuth denn nicht einfach eine Frau sein, so eine arme, mittellose Frau, in irgendeiner Familie anständig arbeiten und auch ein bisschen das Leben genießen? Warum reichte es bei ihm, obwohl kräftig, nur für eine Arbeit im Hafen, von Zeit zu Zeit, um Kisten und Säcke mit Schrot und Zement zu entladen? Warum musste er auch gerade hier landen, bei dem verrückten Dynamowärter und seiner verdammten Tuberkulosefamilie? Frau sein, das wär’s.
Teil 3: Der Dynamowärter
Der alte Härtel, das ist eine längere Geschichte als heute erzählt werden soll. Morgens fuhr er mit der neuen Linie D vom Kotti zum Alex. Dynamowärter, das reichte für eine kleine Wohnung am Landwehrkanal und nicht viel mehr. Vier Bettgänger hatten sie im Moment, die Bettwanzen und die Krätze waren zurück, aber es ging nicht anders, die Medikamente für die Hedwig waren teuer. Die Kinder arbeiteten schon, so viel sie konnten, am Hafen oder in den Straßen, verkauften Blumen, stahlen Kohlen und manchmal auch Pralinen aus dem Wertheim. Verflucht, würden sie doch bloß gute Schuhe stehlen statt Pralinen!
Nach der Arbeit fuhr Härtel neuerdings an die Universität zum Professor Jellinek, der Experimente mit Strom machte. Strom ist gefährlich, Strom tut weh, das wusste der alte Härtel. An Strom hatte er sich gewöhnt, und das schien den Professor Jellinek ganz gehörig zu interessieren. Zwei Stunden lang musste der alte Härtel dann Stromschläge aushalten, Jellinek untersuchte seinen Körper mit verschiedenen Apparaten aus kaltem Metall und drückte ihm am Ende ein paar Pfennige in die Hand. Manchmal gab’s einen Korn, wenn die Tortur besonders schlimm war.
Viel war jetzt anders hier in Kreuzberg. Immer voller wurde es, immer mehr Menschen ohne anständige Arbeit, ohne Bett und Familie, obwohl die Zeitungen schrieben, die Wirtschaft gehe langsam und stetig bergauf. Gewaltausbrüche allerorten, jeden Tag wurden neue Leichen gefunden im Stadtgebiet, die Menschen hatten Angst und Hunger. Im Winter froren sie.
Manchmal, wenn Jellinek den Härtel noch länger drin behielt, war die letzte U-Bahn schon abgefahren, dann lief der Härtel den alten Luisenstädtischen Kanal runter, immer an den Prachtbauten im schönen elektrischen Licht entlang. Immerhin war der Gestank vom fauligen Wasser weg, seitdem die Arbeitslosen den Kanal wieder verfüllt hatten. Mit all dem Kunstkrams, der jetzt im alten Becken stand, konnte er aber nichts anfangen.
Teil 4: Schlaf
Marthas Kopf hing schlaff Richtung Urbanhafen. Mitten über dem Geländer war sie eingeschlafen und träumte von der See in der Nacht, die sei einhüllt, beschützt. Ein Admiral braucht nichts zu fürchten. Admiral sein, davon träumte Martha.
Eine Frau sein mit einem schönen Kleid, davon träumte Helmuth. Mit einer schwarzen Kappe und langen, schwarzen Handschuhen und Lippenstift unter den elektrischen Leuchten des Tanzsaals, und es spielt amerikanische Tanzmusik und die Herren in den schicken Anzügen reißen sich um die schöne Frau in Schwarz. Frau sein, auf der schönen Seite stehen, davon träumte Helmuth.
Als er auf die Admiralbrücke zulief, bekam der alte Härtel es mit der Angst zu tun: Nicht schon wieder so ein armes Mädchen. Diese hier sah besonders übel aus, das Kleid zerrissen, die Haare zerrupft, der Kopf hing über das Geländer. Er spürte es wieder aufkeimen in sich. Was soll ich tun, hörte er, wie soll das nur werden, was ist denn passiert! Immer lauter kreischte die Stimme, brüllte: was tun! was tun! was tun! und hörte nicht auf, bis der alte Härtel keuchend vor seinem Haus stand. Hinein in den Flur, die Treppe hinab, gerade wollte er eintreten, als ihm das Mädchen von der Brücke wieder einfiel.
Hinten, im dritten Hinterhof, wollten sie erst gar nicht hören, als der Härtel an die Tür schlug. “Hau ab!”, rief eine. Nach einer Weile zischte es dann aus einem Fenster: “Was ist denn so spät!” “Eine Frau”, stammelte Härtel, “an der Brücke. Was tun, was soll ich tun?”
Teil 5: Strom
Die Stadt an der Spree, das ist eine Stadt unter Strom. Wer den Strom berührt, den trifft der Schlag. Daher kommen auch all die Verrückten. Strom ist nicht heiß oder kalt, aber man kann Wärme und Kälte daraus machen. Der alte Härtel verstand das am Besten mit seiner vielen Erfahrung mit dem Strom. Die Martha, die er auf der Brücke gefunden hatte, die hat inzwischen die Wärme gefunden. Im Arbeiterinnenwohnheim im Hinterhof, das wo die Frau Dr. Salomon früher war, hat man ihr erst ein Bett gegeben und dann auch eine Arbeit gefunden für sie bei einer gutherzigen jüdischen Familie drüben in Schöneberg.
Der Helmuth, der Schlafgänger, der hat die Kälte gefunden. Erst hat er sich mit der Martha angefreundet, dann ihre neuen Kleider ausgeliehen und von Zeit zu Zeit vor den Lichtspielhäusern gestanden und hat mit einem Pappkarton so getan, als würde er Fotos machen von den feinen Herrschaften. Den Nazis hat das nicht gefallen, sie warfen den Nichtschwimmer Helmuth eines Nachts einfach in den Kanal.
Admiral sein, Frau sein – das alles hat der Härtel gesehen, den Strom an Wünschen und Ideen und Gesichtern, die an ihm vorbeitrieben in dieser großen Stadt. Die viele verflossene Liebe, die Hoffnung auf ein besseres Leben, das die Armen vom Land hierhin trieb. Aber hier, am Kanal, wurde es selten jemals gut. Das wusste der alte Härtel nun. Denn wer den Strom berührt, den trifft früher oder später der Schlag. Und so spazierte er noch häufig abends am Kottbusser Ufer entlang und pfiff traurig vor sich hin: “Du bist verrückt mein Kind, du mußt nach Berlin. Wo die Verrückten sind, da jehörste hin!”
Der Text entstand im Rahmen der Schreibwerkstatt bei Prof. Annett Gröschner. Aufgabe war es, die eigene Adresse im Berliner Adressbuch des Jahres 1928 zu finden und über die damaligen Bewohner*innen des Hauses fiktive Geschichten zu schreiben. Hier handelt es sich um ein Haus am Paul-Lincke-Ufer in Kreuzberg.