1928: Formflucht

Die Hände sind kalt und greifen trotzdem das dünne Holz. Einatmen. Druck zwischen Daumen und Zeigefinger, Druck nach vorne: die rote Kuppe reibt über die Körnung. Funken, Zischen, Hitze. Ausatmen. Fanny schiebt ihren Kopf Richtung Hand, Finger kommen ihr entgegen. Flamme an Zigarette. Einatmen.

Der Rauch zieht von ihrem Körper weg, als könne er nicht aushalten in ihrer Nähe zu bleiben. Dünne, hellgraue Fäden ziehen nach oben in Richtung des kleinen Rechtecks Himmel. Die Wände, die ihn rahmen, sind so schmutzig-grau wie die Luft, die sie beständig rhythmisch aus ihren Lungen presst. Befreiend atemraubender Dreck. Die Mutter ruft und so wirft die Hand die Zigarette trotzig zur Seite. Fanny dreht sich um, drückt die kleine Holztür mit der Schulter auf. Ihr Körper verschwindet im dumpfen Dunkel, lässt den Hinterhof zurück.

Seit Vater gegangen ist leben sie hier in Neukölln. Nachbarn und Kunden sehen sie als Hinterbliebene eines gefallenen Soldaten. Eines Kriegshelden. Die gibt es so häufig wie Rußpartikel an Backsteinmauern. Fanny sieht keinen Helden, nur die giftige Abwesenheit eines Egoisten. Ihr Vater war durchaus Soldat – ganze zehn Stunden – bevor er ging. Irgendwohin, nur nicht in den Krieg: Fahnenflucht. Verständlich. Schmerzvoll. Kein Wort zur Mutter, kein Signal an Fanny, nur plötzliche Abwesenheit. Also lassen sie die Anderen glauben, welche von vielen zu sein.

Fannys Mutter ist Naturheilkundige. Fanny ist Naturheilkundige – muss naturheilkundig sein. Es ist ihr Erbe, ob sie es will oder nicht. Das Erbe ihres Vaters ist Verzweiflung und das Rauchen – das geht gut zusammen. Und so lernt sie die vielen Töne der Blätter und Blüten zu unterscheiden, ihre Formen und Funktionen. Beifuß bei schmerzhafter Monatsblutung, Salbei gegen Unfruchtbarkeit und Pfingstrosen für einen traumlosen Schlaf. Sie mörsert, mischt und reibt. Hört zu, bleibt stumm, lächelt aufmunternd. Und trottet still hinter der Mutter durch den Grunewald auf Krautsuche.

Das viele Grün erdrückt sie förmlich. Zu viel Raum, zu viel Luft. Erst in der U-Bahn lernt sie wieder zu atmen. Das beschäftigte Treiben, das Ruckeln der Wagenräder, das quietschende Schieben der Waggons über die Gleise: es löst Knoten. Am Hermannplatz sagt sie ihrer Mutter, sie wolle noch Zigaretten kaufen und komme nach. Kopfschütteln der Mutter. Sie dreht sich um und verschwindet unter den Menschen auf dem Platz Richtung Weserstraße. Zehn Pfenning auf dem Tresen des Kiosks, Hände greifen während die blaue Nil-Packung aufreißt, Fanny einen der Stängel rausfischt und das schmale Papierpäckchen in ihrer Jackentasche verschwindet.

Sie raucht gerne hier: mitten auf dem Platz, Gesicht Richtung Nord-Westen. Lässt ihre Augen über die harte Fassade des neuen Kaufhauses streichen. Die Wucht des Gebäudes erdrückt und befreit. Es nimmt also gibt so viel Raum, dass Fanny weiß, wo und wie sie ist. Das ist zwar keine Antwort auf die Frage, wer sie eigentlich ist, aber das Nächste und ist damit fürs Erste gut genug. Befriedigend direkt ziehen dünne Streben nach oben, umschließen aufeinanderfolgende Glasplatten: Elefantengrau. Stahlgrau. Kaltgrau. Industriegrau. Kadettengrau. Neutralgrau. Taubengrau. Mittelgrau. Klaubgrau. Alles eigen durch Licht, alles gemeinsam durch Materie. Einatmen. Verlauf spüren. Ausatmen.

Die Wohnung in der Nummer 205 ist anders. Sie klebt und juckt, ist voll und unordentlich. Überall liegt, hängt und steht Zeug – zumeist aus Stoff, immer farblich unentschlossen. Drei Räume teilen sich denselben betonkalten Boden: Schlafzimmer, Wohnstube und Ordinationsraum. Dort arbeiten sie. Fanny ist auch dort, wenn sie nicht arbeiten: nachts, wenn Mutters Schnarchen die durchgelegene Matratze zum Vibrieren bringt; morgens, wenn sie Mutter überreden konnte, nicht mit ins Bethanien Krankenhaus zu müssen. Bethanien – der Bau mit protzigem Namen und tränenseligen Rundbögen an jeder noch so kleinen Öffnung, mit zwei verwirrten Türmen, die selbstsüchtig ins Nirgendwo stechen. Ihre Hilfe dort wird zwar mit einer Mark pro Stunde entlohnt, doch Fanny verspricht Ordnung, Sauberkeit und frische Ringelblumensalbe im Arbeitszimmer. Heute akzeptiert Mutter den Handel und lässt Fanny allein. Die Wohnungstür rumst ins Schloss, Fanny dreht sich um, geht zwei Schritte, die Rückseite der rechten Hand hebt das schwer-gewebte Tuch zur Seite, sie tritt durch, zieht ihre Hand zurück, hört den dicken Webstoff hinter sich dumpf fallen. Einatmen.

Nur an wenigen Tagen, nur in wenigen Stunden verliert sich Licht in diesem Raum – trotz Südseite, trotz großer Doppelglasfenster. Das gegenüberliegende Haus greift es sich normalerweise zuerst, der geliebte Stadtmief tut den Rest. Heute aber durchziehen zwei eckige Lichtdiagonalen den Raum. Fanny beäugt ihre Wanderung über den rauen Boden, durch die staubige Luft. Sie laufen ihr weg – typisch. Wartend steht sie da, will die Anwesenheit nicht stören. Es poltert. Die Witwe Ritter – fortschreitende Dekubitus am oberen Rücken, Arthritis im rechten Bein und venös-bedingter Ulcus cruris am linken Unterschenkel – hat wahrscheinlich wieder etwas fallen lassen. Fanny weiß, dass sie hochlaufen und nach dem Rechten schauen sollte. Aber ihr Widerwillen pocht stärker: pulsierend springt er durch den Raum, verzweifelt auf der Suche nach einem Anknüpfungspunkt. Bis ihre Augen an der Vitrine kleben bleiben. Die Vitrine – Vaters Vitrine – steht in der hinteren linken Ecke des Zimmers. Dunkles, rostbraunes Holz und abblätternder Lack. Ein kleiner Schrank, Doppeltür, ein kaputtes Schloss mit fehlendem Schlüssel. Nur teilweise geschnitzt verziert, als ob Vater voller Eifer angefangen und schnell das Interesse verloren hätte. Wunderschön unvollständig – wie Fanny. Im verglasten Schrank obenauf zwei Platten, unzählige Fläschchen, Tiegel und Phiolen. Jetzt dringt Sonnenlicht durch das matte Glas und spielt mit Form und Farben. Ausatmen. Fanny räumt, wischt und rührt bis es wieder poltert. Dieses Mal kann sie sich dem schlechten Gewissen nicht entziehen. Natürlich umsonst. Die Witwe freut sich über Gesellschaft, Fanny nicht. Trotzdem harrt sie ewig oben aus, kann nicht enttäuschen, kann nicht gehen.

Menschen erzählen am liebsten über sich selbst. Fanny weiß das, sie kennt diese Sucht. Deswegen die Flucht hin zum Körper ohne Leib, zum nur Sein, zum Atmen. Zum Atmen zwischen den Backsteinrillen der Gewerbehöfe, über die gelben Kacheln des Bahnhofs – Atmen durch den Raum, entlang der Form.

Der Text entstand im Rahmen der Schreibwerkstatt bei Prof. Annett Gröschner. Aufgabe war es, die eigene Adresse im Berliner Adressbuch des Jahres 1928 zu finden und über die damaligen Bewohner*innen des Hauses fiktive Geschichten zu schreiben. Hier handelt es sich um ein Haus in der Weserstraße in Neukölln.