29. September 2020
Thomas A. HerrigWas nie ein Mensch zuvor gehört hat
Wie man im Weltraum Freunde findet – mit klassischer Musik. Über singende Hologramme, völkerverständigende Streichsextette, Brandenburgische Konzerte und andere kosmische Hausmusik

Meine Liebe zu Opern und klassischer Musik verdanke ich Star Trek. Genauer gesagt, einer künstlichen Intelligenz (KI) namens Der Doktor. Er ist der leitende Arzt der USS Voyager, einem jener Raumschiffe, die durch das fiktive Universum des Science-Fiction-Serien-Kosmos von Star Trek reisen und deren Besatzungen in ein gesellschaftskritisches Abenteuer nach dem anderen geraten.
Da die Voyager durch einen unglücklichen Zufall am anderen Ende der Galaxis strandet und das gesamte medizinische Personal ums Leben kommt, passiert, was niemals vorgesehen war: Das medizinisch-holografische Notfallprogramm Der Doktor, eine denkende und fühlende KI, übernimmt notgedrungen die Stelle des leitenden und einzigen Mediziners an Bord.
Was als Übergangslösung gedacht ist, ein Computer-Arzt, der im Notfall das medizinische Team unterstützen kann, wird zur Vollzeitlösung – mit ungeahnten Konsequenzen. Denn nun, da das digitale Lebewesen 24 Stunden am Tag aktiv ist, entwickelt es im wahrsten Sinne ein Eigenleben. Und sucht Anschluss an die Besatzung.
Aber wie gewinnt ein Hologramm im 24. Jahrhundert Freunde?
Nicht anders als im Hier und Heute: durch Hobbies. Gemeinsame Interessen, die man teilen kann. Und das Hobby, das Der Doktor für sich entdeckt, ist klassische Musik, speziell die Oper.
Der Doktor: “Sie hätten mich sehen sollen, als ich das erste Mal Pucchinis Tosca […] hörte. Den gesamten dritten Akt lang habe ich geschluchzt.” Ein Computerprogramm, das weint!? Das mehr werden will, als die Summe seiner Teile, aus dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit? Das fasziniert mich. Auch weil es in der Serie glaubhaft funktioniert, Der Doktor seine Programmierung als reiner Notfall-Arzt überwindet und zum Freund wie Vertrauten seiner Kollegen wird, am Ende sogar Liebe findet.
Und als mein Vater mich fragt – ich muss ungefähr 15 sein –, ob ich mit in eine Oper kommen will, sage ich begeistert ja, denn: Ich möchte natürlich auch neue Freunde finden. Genau wie Der Doktor. Jener erste Abend, es ist Wagners Die Walküre, begeistert mich dann so nachhaltig für die Oper und klassische Musik, dass auch ich ein neues Hobby finde. Eines, das ich gerne mit anderen teile und durch das ich in den nächsten Jahren gleich mehrere enge Freunde gewinne.
Klassische Musik – ist das denn nicht ein ziemlich elitäres Hobby?
Im Hier und Jetzt der Gegenwart? Vielleicht. Zumindest begegnet mir ein durchschnittliches Klassikpublikum häufiger als eher homogene Masse von Eingeweihten und Kennern denn als heterogenes Schnittbild der Gesellschaft.
Bei Star Trek ist das anders: Hier ist klassische Musik “Lebensmittel” und Lebensmittelpunkt, etwas Alltägliches, das Arbeit und Freizeit all jener im Dienst der Sternenflotte bereichert. Und so spielen viele der Offiziere selbst Musikinstrumente, präsentieren ihr Können regelmäßig bei kleinen Hauskonzerten an Bord; Captain Picard von der USS Enterprise zum Beispiel übt leidenschaftlich gerne das 3. Brandenburgische Konzert von Bach auf seiner Flöte. Sein zweiter Offizier, ein Android namens Commander Data – genau wie Der Doktor eine künstliche Lebensform – spielt als Sherlock-Holmes-Fan stilecht Violine. Und das auch, um seinem großen Ziel, menschlicher zu werden, näher zu kommen und Freunde zu finden.
Allein die Liste der Star Trek-Offiziere, die ein Instrument spielen oder sich mit klassischer Musik beschäftigen, ließe sich gefühlt unendlich fortsetzen. Und in aktuell 7 Serien mit rund 750 Episoden und 13 Kinofilmen finden sich – vorsichtig überblickt – mehr als 50 Werke der klassischen Musik: von Bach, Berlioz und Brahms über Mahler, Mozart und Mendelssohn bis hin zu Verdi, Vivaldi und Wagner.
Doch Freunde finden geht sogar noch außerirdischer.
Denn neben diesem alltäglichen und fast beiläufigen Umgang mit klassischer Musik, kommt ihr in Star Trek noch eine weitere, große Bedeutung zu: die Völkerverständigung. Also nicht nur zwischen den Menschen der Erde, sondern auch den unterschiedlichen außerirdischen Spezies gegenüber. In einer besonderen Episode lässt das Streichsextett Nr. 1 von Brahms den kulturell-bedingt von allen emotionalen Regungen abgekoppelten vulkanischen Botschafter Sarek (Spocks Vater) vor Rührung sogar weinen.
Die sicher bemerkenswerteste Episode hierzu bringt mich wieder zurück zur USS Voyager: Die Besatzung trifft auf eine technologisch weit überlegene Zivilisation von Mathematikern, die Menschen als höchst rückständig betrachten und eigentlich keinen Kontakt mit so “primitiven” Lebewesen wollen. Bis Der Doktor zufällig beginnt, ein Lied zu summen: “I’ve been working on the railroad”, ein amerikanischer Folksong. Die Fremden staunen nicht schlecht, denn Musik kennen sie nicht. Und so wird Der Doktor kurzerhand zum Botschafter, er veranstaltet als Sänger eine Reihe von Konzerten und macht die Fremden mit ganz verschiedenen Musik-Genres bekannt. Im Rückgriff auf Leoncavallos Oper Pagliacci tritt er im Bajazzo-Kostüm sogar vor Hunderten Millionen Live-Zuschauern auf dem Planeten auf und schmettert im grandiosen Finale der Episode als Opern-Tenor leidenschaftlich die neapolitanische Romanze “Rondine al nido”.
Hier schließt sich ein Kreis: Denn jener Computer-Arzt, der gut sechs Jahre zuvor selbst Fremder ist und durch sein Hobby Freunde findet, macht jetzt – als Musikbotschafter der Menschheit – eine ganze Zivilisation von außerirdischen Fremden zu neuen Freunden. Und das dank der Kraft klassischer Musik.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Magazin “BE LONGING”, das im Rahmen des Mentorenprintprojekts im Wintersemester 2019/20 unter Leitung von Wolf Kampmann von den Studierenden des Jahrgangs 17 produziert wurde. Das gesamte Heft gibt es als PDF auf der Seite des Studiengangs.