“Meine Eigenpersönlichkeit”: Die Malerin Lotte Usadel (1900-1982)

“Ich kann nur malen, wenn das Bild in mir danach verlangt, gemalt zu werden.” – Mit diesem Satz lehnte die Malerin Lotte Usadel in späteren Jahren gelegentlich Aufträge ab, die sie nicht interessierten, die nicht ihrem künstlerischen Selbstverständnis, ihrem Anspruch an sich selbst entsprachen. Und der war hoch. Die Formulierung birgt auch eine Tragik, denn anders als in ihrer Stettiner Zeit in den 1920er und 1930er Jahren als erfolgreiche und finanziell unabhängige Frau, verdiente sie in den Jahren nach ihrer Flucht 1945 nur noch wenig mit ihren Bildern.

Im Zuge der Gründung der Weimarer Republik in den frühen 1920er Jahren wurden Frauen erstmals regulär zur Aufnahme an den Kunstakademien zugelassen. Sie gehörte dieser Generation von Künstlerinnen der Moderne an, die neue Möglichkeiten ihrer künstlerischen Entfaltung und ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmbarkeit erlebten.

Intermezzo in Berlin

Lotte Usadel begann ihre Ausbildung in der Grafikklasse an der Stettiner Werkschule für Gestaltung. Ab 1921 studierte sie an der Akademischen Hochschule für die bildenden Künste Berlin. Sie belegte Anatomisches Zeichnen, Schriftzeichnen und den Kursus bei Erich Wolfsfeld. Eine ihrer Kommilitoninnen in dieser Klasse war die Malerin Lotte Laserstein. Auf Fotos sieht man die jungen Frauen in weißen Kitteln an ihren Staffeleien im großen Zeichensaal stehen. 

1925 kehrte Lotte Usadel zurück nach Stettin. Die alte und reiche Hansestadt am Oderhaff war zu dieser Zeit die drittgrößte deutsche Stadt, eine Industrie- und Kulturmetropole. Hier im lebendigen Kreis um die Stettiner Schule fand sie ihre künstlerische Heimat. 

Das erste Zusammentreffen mit dem Direktor und Architekten Gregor Rosenbauer hat sie viel später in einem Brief an ihre langjährige Freundin, die Weberin und Bauhaus-Schülerin Else Mögelin, festgehalten:  “Tief eingeprägt hat sich mir die Begegnung mit Professor Rosenbauer als ich, in Begleitung meines Vaters, mich in der Werkschule vorstellte. Noch heute hüte ich wie eine Trophäe im Originalumschlag die Originaltexte der Prüfungsaufgaben.”

Der Großteil ihrer Bilder ging unrettbar verloren

Dies ist bemerkenswert, denn Lotte Usadel konnte bei ihrer späten und schlimmen Flucht aus dem zerbombten Stettin 1945 nicht mehr viel mitnehmen. Sie floh im letzten Moment und buchstäblich, um ihre Haut zu retten, während Soldaten die Tür zu ihrem Atelier verbarrikadierten. Der Großteil ihrer Bilder ging unrettbar verloren.

Sie flüchtete zu ihrem Bruder nach Heidelberg. In der Nähe seiner Familie führte sie nach dem Zusammenbruch ihrer beruflichen Selbständigkeit die zweite Hälfte ihres Lebens in finanzieller Abhängigkeit. An den Erfolg ihrer Stettiner Jahre konnte sie, die nicht nur ihr Zuhause und ihren Besitz, sondern auch viele ihrer Freunde und künstlerischen Wegbegleiter verloren hatte, nicht mehr anknüpfen.

Die Herausbildung der Künstlerpersönlichkeit bildet den Kern im künstlerischen Selbstverständnis

Die Herausbildung der Künstlerpersönlichkeit, der Haltung im Schaffen und der stilistischen Ausprägung, bildet den Kern im künstlerischen Selbstverständnis. Sie war Teil der Ausbildung an den Kunsthochschulen und in den Ateliers bekannter Künstler. Lotte Usadel verbrachte mehrere Monate in Paris und arbeitete als Stipendiatin bei Fernand Léger.

Anlässlich einer Ausstellungseröffnung 1929 charakterisierte Walter Riezler, charismatischer Direktor des Stettiner Museums auf der berühmten Hakenterrasse die Malerin so: “Sie hat nach geduldiger, auch mühevoller Suche ihren Weg gefunden, der sie noch zu schönstem Gelingen führen wird. Man kann vor den Bildern leicht den Eindruck gewinnen, dass man es hier mit einem jener grüblerischen Talente zu tun habe, die schließlich in der Problematik versinken. Dass dem nicht so ist, beweisen die flott, temperamentvoll, dabei mit einem sicheren Gefühl für graphische Reize hin geschriebenen Federzeichnungen, unmittelbar vor der Natur entstanden, Zeugen eines lebendigen Beobachtungsvermögens, dass das Besondere menschlicher Typen und die Bewegtheit von Straßenszenen ebenso wie das geheime Leben der Landschaft festzuhalten versteht.”

Zu dieser Zeit war Lotte Usadel, genannt “Ulo”, bereits festes Mitglied im Kreis der jungen Stettiner Maler und Bildhauer, die sich 1930 in der Künstlergruppe das neue pommern zusammen schlossen. Die Gruppe war maßgeblich geprägt durch den einflussreichen Kunst- und Musikhistoriker Walter Riezler, der auch die Werkbund-Zeitschrift Die Form herausgab und durch den Peter-Behrens-Schüler Gregor Rosenbauer.

Im Kreis mit Klee, Schlemmer, Dix und Grosz

Beide waren weitreichend vernetzt und förderten das Kulturleben, insbesondere die zeitgenössische moderne Kunst. Die Stettiner Schule bildete eine Institution, an der Hermann Muthesius, Ludwig Mies van der Rohe und Julius Meier-Graefe Vorträge hielten, Johannes Itten und Else Mögelin lehrten. An den großen Ausstellungen beteiligten sich neben Paul Klee, Oskar Schlemmer, Otto Dix und George Grosz auch die jungen Stettiner Maler.

Charlotte Usadel war gebürtige Stettinerin aus gutbürgerlicher, gebildeter und großzügiger Familie, der sie nah stand. Sie galt früh als begabt, eigenwillig und phantasievoll. Schon als Schülerin machte es ihr Spaß, Rollen zu probieren. Klangvolle ausgedachte Namen wie “Gundborg zu Utholm-Vikingen” ließ sie auf Visitenkarten drucken, die sie dann wie zufällig auf der Straße fallen ließ und sich vorstellte, bewundert zu werden. Sie liebte Scharaden und schrieb sich mit ihren Eltern Gedicht-Postkarten in Versform.

Sie heiratete nie. Verlobt war sie mehrmals, zuerst mit einem Pommerschen Gutsverwalter, einem Freund ihres Bruders. In der Berliner Zeit lernte sie einen katholischen Kirchenmusiker kennen, mit dem sie noch lang in Verbindung stand. In Paris erlebte sie ihre große Liebe mit einem Journalisten doch schließlich stellte sie jedes Mal ihre Freiheit, ihr selbstbestimmtes Leben mit Freunden und Kollegen über eine feste Bindung. Sie liebte Gesellschaft, flirtete gern, war dominant. Auf Fotografien in den Familienalben sieht man sie mit breiter Stirn und kurz geschnittenen Haaren in fröhlichen und lockeren Posen, ausgewählt und leicht exaltiert gekleidet am Strand von Usedom, Ahrenshoop, Hiddensee oder kostümiert bei den legendären Künstlerfesten.

“Schöne und furchtbringende Jahre, die alle verbanden”

Welche Bedeutung sie Rosenbauer und Riezler in Bezug auf ihre künstlerische Entwicklung in den Jahren zwischen 1926 und 1933 beimaß, formulierte sie so: “Beide haben den Beginn einer Eigenpersönlichkeit in mir bewirkt. Ich überdenke wieder diese Zeit, in der wir nach einem gemeinsam verlebten Musikabend oder nach einem Vortragsabend im Museumsverein anschließend in zwanglosen Gesprächsgruppen in irgendeinem Weinlokal unsäglich gute Gespräche hatten. Es wurde auch heiß diskutiert. Oder dann die Sonntage draußen auf dem schönen Besitztum von Georg Manasse. Wir streiften durch den Falkenwalder Forst oder saßen abends in der Bibliothek beim Wein. Plötzlich brach dann etwa ein hitziger Streit aus zwischen Rosenbauer und Riezler über den in Berlin neu installierten Pergamonaltar, den Riezler in ein nördliches Gefängnis gesteckt, einen verunglückten Verstich nannte. Es waren schöne und fruchtbringende Jahre, die uns alle verbanden.”

Diese Zeit endete 1933. Auf Druck der NSPAD wurde das neue pommern aufgelöst. Viele Stettiner Künstler erhielten Berufsverbot, ihre Arbeiten wurden aus öffentlichen Ausstellungen entfernt. Gregor Rosenbauer wurde die Lehrerlaubnis entzogen, Walter Riezler wurde zwangspensioniert und zog sich nach München als Privatgelehrter zurück. 

Lotte Usadel blieb in Stettin. Sie hatte Aufträge, arbeitete in ihrem Atelier an Portraits und entwarf großformatige Wand- und Glasmalereien. Ihre Buntglasfenster mit dem Stettiner Panorama im Sparkassengebäude und in der umgebauten Eingangshalle des ehemaligen Arsenals sind bis heute erhalten. 

Flucht aus Stettin – der Verlust des alten Lebens

Sie flüchtete erst in letzter Stunde aus Stettin und ließ ihr halbes Leben zurück. In den frühen Nachkriegsjahren lebte sie, die Großstädterin, auf dem Land zwischen Heidelberg und Heilbronn, wohin sie später zog. Sie litt unter Heimweh, Depression, war mutlos, aus der Bahn geworfen, ohne Perspektive, aber auch ohne Bereitschaft, etwas auszuprobieren, was nicht ihren Ansprüchen, ihrem Selbstbild entsprach.

Sie malte, zunächst mit Pastellstümpchen auf Zeitungspapier, denn Material, Farben, Papier waren knapp. Es folgten kleinere Ausstellungen, erst privat, dann im Heilbronner Kunstverein. Sie trat einem Stuttgarter Künstlerbund bei, doch letztlich fühlte sie sich wohl überlegen und verachtete mit einem gewissen Dünkel den provinziellen Dilettantismus, den sie hier vorfand. Um sich über Wasser zu halten, entwarf sie Muster für eine Stofffabrik. Mit der Zeit bekam sie wieder Aufträge, entwarf Wandbilder und Glasfenster für die Pommernkapelle in der Kieler Nikolaikirche. Doch leben konnte sie von ihrer Arbeit nicht mehr. Dennoch schlug sie das Angebot einer Zeichenlehrerstelle am Gymnasium aus. Geld verdiente sie schließlich mit dem Schreiben von Klinik-Statistiken in Schönschrift, mit denen ihr Bruder sie beauftragte.

Es fiel ihr zunehmend schwer, sich von Werken zu trennen

Ab und zu verkaufte sie ein Bild, aber es fiel ihr zunehmend schwer, sich von ihren Werken zu trennen und bei ihren Ausstellungen deklarierte sie schließlich die meisten ihrer Bilder, farbige Landschaften, Reiseskizzen, Blumen als unverkäuflich. Eher verschenkte sie ein Bild.

Sie pflegte Kontakte mit einer Handvoll alter Freunde; man schrieb und besuchte sich, reiste zusammen, malte. Sie las Ernst Jünger, Thomas Mann, Anais Nin. Sie sah sehr gut aus, großes Gesicht, große Hände, war schön gekleidet, trug immer ein Schmuckstück. Eine Freude machte man ihr mit Büchern, Farben und Zigaretten.

Das Leben ist ihr, gerade durch ihren Stolz, nicht immer leicht gefallen. Ihre Persönlichkeit ließ ihr nicht die Wahl. Sie blieb in ihrer Haltung als Künstlerin konsistent: eigensinnig, selbstbewusst und letztlich kompromisslos.