31. October 2020
Sabina ZollnerLit. Herbst #2 Spiegel der Gesellschaft

Katrin Seddig erzählt in ihrem Roman “Sicherheitszone” von einer Familie, bei der während des G20-Gipfels die Grenzen zwischen Privatem und Politischem immer mehr verschwimmen.
Zecken, das sind für den jungen Polizisten Alexander diese linken Demonstrant:innen, nichts als Zecken, die ihn und seine Kolleg:innen mit Flaschen bewerfen. Und seine Schwester Imke ist eine von ihnen. Die 17-jährige Abiturientin und ihre Clique planen sogar eine Blockade beim G20-Gipfel in Hamburg 2017. Gemeinsam leben die beiden mit ihrer Oma Helga und ihren Eltern Natascha und Thomas in einem großen Haus in Hamburg-Marienthal. Um sie dreht sich alles in dem Roman Sicherheitszone von Katrin Seddig, in dem man in das spannungsgeladene Hamburg vor, während und nach dem G20-Gipfel eintaucht.
Seddig, die dafür bekannt ist, das Besondere im Alltäglich zu finden, erzählt in Sicherheitszone von dem Zerfall einer gutbürgerlichen Familie. Das Politische dringt dabei ins Private ein, und es bilden sich immer tiefere Gräben zwischen den einzelnen Familienmitgliedern. Die Familie ist dabei wie ein Brennglas der Hamburger Gesellschaft. Da sind Großmutter Helga und ihr Enkel Alexander. Sie sind gegen den Protest, gegen die Aufruhr und für das System. So klagt Helga nach dem Gipfel: “Schlimm ist das, was sie aus unserem schönen Hamburg gemacht haben, diese Chaoten. Alle sollte man sie einsperren. Jeden würde ich anzeigen, wenn ich könnte.”
Dann ist da ihre Enkeltochter Imke, die wie ein moralischer Kompass alle Geschehnisse verfolgt, das Unrecht sieht, aber auch die Mittel des Protests hinterfragt: “Ich hätte gerne eine Sache, die wirklich auch was bringt.” Die Eltern, Natascha und Thomas, wirken eher unentschlossen. Sie sehen die Ungerechtigkeiten, doch sie lehnen jegliche Form der Radikalität ab.
Doch der Gipfel macht etwas mit ihnen. Auch, weil er in einer Zeit stattfindet, in dem ihre Familie immer mehr zerfällt. Seit Thomas seine Frau Natascha betrogen hat, leben sie getrennt. Und auch zu ihren Kindern haben sie ein immer distanzierteres Verhältnis. Es ist, als hätten sich die beiden zwanzig Jahre lang in ihr Kleinfamilien-Dasein geflüchtet und brechen nun aus. “Wir können nicht mehr so weiterleben, Thomas. Sieh dich um, was hier passiert, in diesem Land und auf der Welt, wir haben die Pflicht, etwas zu tun, wir müssen uns für etwas einsetzen”, stellt Natascha nach den Protesten fest.
Es sind diese durchdringenden Gedanken, Träume und Bedürfnisse der Charaktere, die Sicherheitszone so besonders machen. Da ist Sohn Alexander, der von seinen Eltern adoptiert wurde und deshalb von der Angst getrieben ist, nicht geliebt zu werden. Der nach außen hin den harten Polizisten spielt, aber innerlich seine Homosexualität unterdrückt, der sich heimlich nach der Gelassenheit der Demonstrant:innen sehnt, als er während der Proteste in Polizeischutzkleidung vor ihnen steht. Seine konservative Oma trauert hingegen einer Zeit hinterher, die lange vergangen ist, einer Zeit in der Frauen und Männer noch “anständig” waren und sich nicht von falschen Gefühlen haben leiten lassen. “Wenn du jung bist, dann musst du dich verlieben, um eine Familie zu gründen. Dafür sind Gefühle da.” Heimlich sehnt aber auch sie sich nach etwas anderem: “Wenn sie an Liebe denkt, dann denkt sie an Reinhard Strom. Er war ein Freund ihres Mannes.”
Diese Gedanken sind allein der Leser:innenschaft vorbehalten, denn die Familie Koschmieder spricht nicht miteinander, man wartet geradezu darauf, dass sie sich einfach mal an den Abendbrottisch setzen und miteinander reden. Dass diese Momente fehlen, ist vielleicht am Ende genau das, was in unserer Gesellschaft passiert: die Verhärtung der Fronten, die fehlende Kommunikation und die Nichtzulassung von Ambivalenzen. Der Roman positioniert sich dabei aber klar: Es ist das System, die Polizei, die sich nicht wandelt und weiterentwickelt.
Und das ist auch, warum Sicherheitszone auch jenseits der Hamburger Ereignisse von 2017 relevant ist. Denn wie auch Alexander, der mitbekommt, wie Kolleg:innen Demonstrant:innen zusammenschlagen, haben auch die meisten Polizist:innen beim G20-Gipfel ihre Kolleg:innen nicht verpfiffen. Von 157 Ermittlungsverfahren gegen Polizist:innen wurden alleine 120 eingestellt. Über diese Immunität echauffiert sich auch Thomas: “Er hat es mir mitten ins Gesicht gesprüht, dieser Polizist, einfach so, weil er Bock drauf hatte, weil er konnte.” Doch wie sieht es heute aus? Würde G20 heute anders stattfinden? Die Polizei ist heute wohl nicht mehr nur Opfer linksextremer Gewalt. In Zeiten von Black-Live-Matters-Demonstrationen und illegalen rassistischen Chatgruppen ist sie mittlerweile auch Täterin. Und so sind die Fragen der Polizeigewalt, die Familie Koschmieder vor drei Jahren in Hamburg spalteten, mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Katrin Seddig: Sicherheitszone, Roman, Rohwolt Verlag, Hamburg 2020.