Netflix statt Schule?

Ein alter Röhrenfernseher
Hat der Bildschirm Bildungspotenzial? Foto: Aleks Dorohovich

Mitten im zweiten Lockdown: Theater und Museen sind geschlossen, Konzerte müssen ausfallen, Restaurants ihre Mitarbeitenden in Kurzarbeit schicken. Und Schulen? Bleiben vorerst geöffnet. Doch das kann sich jederzeit ändern – je nach lokal festgestelltem Infektionsgeschehen. Dann gilt natürlich wieder das gelernte Prozedere, genau wie beim ersten Lockdown: Zuhause bleiben, Quarantäne einhalten, bis auf Weiteres: Homeschooling.

In so einer Situation ist Streaming als Freizeitbeschäftigung vor allem bei Schülerinnen und Schülern beliebt wie nie zuvor. Fragt sich nur: Einfach drauf los konsumieren oder etwas anschauen, das unterhält und trotzdem so ganz nebenbei Bildungsinhalte vermittelt? Lässt sich womöglich sogar etwas finden, das Eltern gemeinsam mit ihren Kindern anschauen können?

Drei Vorschläge von drei verschiedenen Streaming-Anbietern, die man einmal ausprobieren kann:

Vorschlag 1 – Star Trek (Netflix, ab 12 Jahre)

Besonders die verschiedenen Serien des Star-Trek-Universums lassen sich als Bildungsfernsehen par excellence verstehen. Es basiert auf dem Konzept des Amerikaners Gene Roddenberry, der bereits 1966 mit der Originalserie Star Trek um den bekannten Captain Kirk und Mister Spock ein TV-Format vorstellte, das gesellschaftlichen Diskurs anzustoßen und Menschen “besser zu machen” suchte. Eine Art Ethik- und Kulturbildungsunterricht für das Fernsehen. Die Besatzung des Raumschiffs Enterprise erlebt dabei nicht nur Abenteuer, sondern stellt sich mit fast jeder Episode gesellschaftskritischen Fragen und Themen: Nachhaltigkeit, Umweltschutz, Gender, Nicht-binär-Sein, Sterbehilfe, Todesstrafe, Umgang mit künstlicher Intelligenz, medizinische Ethik – das alles steht Episode für Episode diskursiv auf dem Stundenplan. Und selbst wenn Roddenberrys von Humanismus und humanistischer Bildung geprägtes Serien- und Filmuniversum nicht jedem gefällt, lässt sich kaum leugnen, dass in rund 800 Episoden verschiedener Star-Trek-Serien und 13 Kinofilmen “ganz nebenbei” ein riesiger Kanon kultureller Bildung angeboten wird. So finden sich alleine über 50 Werke der klassischen Musik in den Serienepisoden, an Bord liest man etwa das Gilgamesch-Epos, Werke von William James oder Dante Alighieri, auf dem “Holodeck” trifft man in gleichsam virtueller Realität Leonardo DaVinci, reist im historischen Orient-Express oder spielt Theater nach der “Stanislawski-Methode”. Und wenn etwa Captain Jean-Luc Picard aus Star Trek: Das nächste Jahrhundert gerade mal nicht Samuel Lonhorne Clemens alias Schriftsteller Mark Twain persönlich via Zeitreise im Jahr 1893 begegnet, versucht er, Probleme mit feindlichen Außerirdischen zu lösen, indem er zum Beispiel minutenlang auswendig Shakespeare zitiert. Nicht ohne Grund füllen deshalb Abhandlungen über die kulturellen und philosophischen Hintergründe des Star-Trek-Universums ganze Regalwände; beispielhaft ist die Monografie Umwege in die Vergangenheit: Star Trek und die griechisch-römische Antike der Innsbrucker Philologin Otta Wenskus zu nennen. Sie geht in einer fast 300 Seiten umfassenden Analyse der Rezeption antiker Mythen und Stoffe bei Star Trek nach.

Vorschlag 2 – Die Simpsons (Disney+, ab 12 Jahre)

Matt Groenings Satire-Zeichentrick-Serie Die Simpsons hat natürlich einen nicht immer ernst gemeinten Zugang zu Bildungsinhalten. Aber Unterhaltung und Hochkultur sind genau genommen auch nie ein Widerspruch gewesen. Vieles von dem, was wir heute einem Kanon der Allgemeinbildung zurechnen, wurde früher als (anspruchsvolle) Unterhaltung konzipiert. Beispielhaft für einen guten Zugang der Simpsons zu solchen Inhalten ist die Episode “Homerotti”: Die Serienstadt Springfield bekommt ein eigenes Opernhaus. Zur Eröffnung gibt man Puccinis La Bohème und Protagonist Homer Simpson entdeckt nebenbei seine hervorragende Singstimme. Prompt erhält er die Titelrolle Rodolfo (den Barbier von Sevilla darf er später übrigens auch noch verkörpern). Einziger Haken: Homer kann nur im Liegen singen, weil sein Zwerchfell dadurch perfekt abgestützt wird. Während sich ein skurriles Mord-Komplott eines Klassik-Fans entspinnt, tritt noch schnell Opern-Legende Placido Domingo als Gaststar auf. Und Homer? Belehrt den berühmten Tenor natürlich postwendend über das Singen. Eine einzelne Episode, die in rund 22 Minuten Puccini wie den Opern- und Klassikbetrieb auf humorvoll-zugängliche Weise behandelt? Das ist wirklich sehenswert – und kein “Versehen”. Tatsächlich überraschen die Simpsons recht oft mit kulturellen Zugängen: Homers Tochter Lisa spielt Bariton-Saxophon, sie liebt Lyrik und Jazz. In “Drei uralte Geschichten” wird Zuschauenden eine eigene Version von Homers Odyssee präsentiert und dann gezeigt, wie Lisa als Jeanne D’Arc die Franzosen gegen England führt und warum Shakespeares Hamlet auch heute noch spannend, aktuell ist. Und wenn der Serienbösewicht Tingeltangel-Bob mitten in einem teuflischen Plan die Gilbert und Sullivan-Operette H.M.S. Pinafore als Ein-Mann-Stück aufführt – nur, um den Wert kultureller Bildung zu unterstreichen – beweist das: Bei den Simpsons steht zugängliche Kultur hoch im Kurs.

Vorschlag 3 – Dr. House (Amazon Prime Video, ab 16 Jahre)

Er habe so viel Zeit mit dem Studium der medizinischen Inhalte der Serie verbracht, da hätte er auch gleich selbst Arzt werden können, sagt Hugh Laurie einmal über Dr. House. Darin verkörpert er den gleichnamigen US-Arzt des fiktiven Princeton-Plainsboro Lehrkrankenhauses. Und tatsächlich: Weil bei der Produktion der Serie von Erfinder David Shore gleich ein ganzes Ärzte-Team beratend zum Einsatz kommt und das Grundprinzip jeder Episode die Sherlock-Holmes-hafte, diagnostische Ermittlung einer Krankheit ist, wird klar: Dr. House als kleines Medizinstudium, da ist etwas dran. Wohl auch deshalb wird die Serie am Universitätsklinikum Gießen-Marburg unterstützend bei der Ausbildung des medizinischen Nachwuchses eingesetzt. Hier verantwortlich ist Prof. Dr. Jürgen Schäfer vom Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen, der “deutsche Dr. House”, wie ihn manche nennen. Er ist selbst bekennender Fan der Serie. In seinen Seminaren setzt er unter anderem einzelne Ausschnitte aus Dr. House-Episoden ein und diskutiert dann mit den Studentinnen und Studenten darüber. “Es gibt Diagnosen, die extrem stimmig sind. Die Fälle sind teilweise so gut recherchiert, dass ich selbst manchmal nachschlagen muss”, sagt Schäfer. Und in den insgesamt 8 Staffeln mit 177 Episoden ist wirklich so ziemlich alles dabei, was das Medizin-Lehrbuch zu bieten hat – von Afrikanischer Trypanosomiasis über Erythropoetische Protoporphyrie, Doege-Potter-Syndrom und Rickettsien-Pocken bis hin zu Wegener-Granulomatose und zerebralem Aneurysma.

Die Zusammenschau zeigt, Bildungspotenzial in Serien gibt es genug. Und natürlich stehen die drei Vorschläge nur repräsentativ für eine Vielzahl qualitativ hochwertiger Produktionen, die man eben nicht nur anschauen kann, um gut unterhalten zu sein.

Speziell im Hinblick auf naturwissenschaftliche Interessen sei übrigens noch Eureka – Die geheime Stadt (Amazon Prime Video, ab 12 Jahre) empfohlen. Eine Serie, die in einer scheinbar idyllischen Kleinstadt im Herzen Amerikas spielt und in der geniale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ungehindert allen Experimenten nachgehen können, die ihnen in den Sinn kommen. Dass dabei allerhand schief gehen kann, daraus zieht Eureka seinen Humor – und konfrontiert die Zuschauenden auf witzige Weise mit Higgs-Feld, Einstein-Rosen-Brücke, Neurolinguistischer Programmierung, Tesserakten, Spaghettisierung in Schwarzen Löchern und noch vielem mehr. Genauso verhält es sich übrigens auch mit der Anwaltsserie Suits (Netflix, ab 12 Jahre), die im Laufe von neun Staffeln beinahe sämtliche Feinheiten des amerikanisches Börsen- und Wirtschaftsrechts beleuchtet, exemplarische Verhandlungstaktiken auf immer neue Fälle anwendet und nebenbei nur so strotzt vor Filmzitaten, popkulturellen Anspielungen und überraschenden Lebensweisheiten. Und wenn Lie to me (Amazon Prime Video, ab 16 Jahre) erklärt, wie man die Mikroausdrücke im Gesicht jedes Menschen erkennt, um Gefühle und Gedanken sowie den Wahrheitsgehalt von Äußerungen dadurch einzuschätzen, kann das vielleicht auch für so manche Alltagssituation nützlich sein. Wissenswert ist es in jedem Fall und es belegt: Serien haben ordentlich Bildungspotenzial. Streamen wir los!