Auf ‘ne Schrippe in die Andacht

Um 7.30 Uhr lädt die Berliner Stadtmission zum Frühgottestdienst ein. Foto: Lara Sielmann

Nichts für Morgenmuffel. Während sich die meisten lieber nochmal umdrehen, um eine Stunde länger liegen zu bleiben, bevor sie zur Arbeit müssen, treffen sich kurz vor Sonnenaufgang in der Berliner Stadtmission Gläubige zum gemeinsamen Frühstück und um Andacht zu halten.

In großen dunkelblauen Lettern prankt der Leitspruch der Berliner Stadtmission in der hauseigenen Kapelle: “Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn, (Jeremia 29,7).” Sechs Männer beten im Halbkreis vor einem kleinen Tisch mit einem hölzernen Kreuz. Etwas stickig ist es in dem niedrigen, langgezogenen Raum, der nach dem Gummi des Bodens riecht. Auf beiden Seiten erstreckt sich eine Glasfront. Links ein Innenhof: üppiges Grün, ein großer Baum. Rechts: ein Flur, der die Kapelle mit dem Empfang und weiteren Räumlichkeiten verbindet. Reges Treiben herrscht, im Festsaal gegenüber wird bereits eine Veranstaltung vorbereitet. Die Gebetsgruppe lässt sich davon nicht irritieren, und so kann man auch die Frühschicht als ein Format verstehen, bei dem Gläubige in der Früh um 7.30 Uhr zu einem Frühstück und Andacht zusammenkommen, sich austauschen, über das, was sie beschäftigt, im Glauben wie gesellschaftlich, um dann gestärkt in den Berliner Alltag entsendet zu werden.

Frühstück an einer improvisierten Tafel

Schon gegen 7.15 Uhr warten drei der fünf Teilnehmer vor der Tür links neben dem Haupteingang der Berliner Stadtmission in der Lehrter Straße 68 vor der Buchhandlung Blattgold, die Teil der Stadtmission ist. Sie sind dick angezogen – mit Mütze, Schal und Jacke oder langem schwarzen Mantel, wie es das schmuddelige Herbstwetter an diesem Morgen vorschreibt. “Schön, dass Sie alle da sind”, begrüßt Pfarrer Gerold Vorländer die Gruppe, nachdem sie die wenigen Stufen ins “Blattgold” hinter sich gebracht haben. Angenehm warm ist es dort, Kaffeegeruch liegt in der Luft. Zwischen hellen, hölzernen Bücherregalen mit Bibeln, zeitgenössischer Gegenwartsliteratur oder Geschenkartikeln, wie Postkarten mit christlichen Sprüchen, ist eine improvisierte Tafel aus drei Tischen und weißen Decken aufgebaut: gekochte Eier, Käse, Wurst, Butter, Quark, Obstsalat, Marmelade und ein rundes silbernes Tablett mit Schrippen und Mehrkornbrötchen, Kannen mit Kaffee, Milch und Orangensaft. Etwas eng, aber nicht ungemütlich ist es in der schmalen Buchhandlung, die mehrere kleine Deckenlampen erleuchten. Durch die Fenster auf der linken Seite erkennt man die Einfahrt, ein paar Parkplätze und weitere Gebäude des Areals. Vieles ist hier untergebracht, darunter Notunterkünfte für Obdachlose und ein Jugendgästehaus.

In verschiedenen Projekten macht es sich die Berliner Stadtmission zur Aufgabe, Menschen in Not zu helfen. Allein am Bahnhof Zoo versorgt sie am Tag bis zu 600 Menschen mit Essen. Vom Mitgliederschwund der Kirchen ist hier, laut Gerold Vorländer, der seit fünf Jahren Teil der Frühschicht ist, nichts zu merken: “Unsere ehrenamtlichen Helfer und Spenden steigen, die Menschen möchten in Not Geratene unterstützen. Und das kann man bei uns, auch wenn man nicht getauft ist.” Der Ende 50-Jährige trägt eine runde, graue Brille, seine Stimme ist klar und freundlich, um die Augen liegen zarte Kränze aus Lachfalten. Oft lächelt er etwas spitzbübig in die Runde der Frühschicht, die aus fünf Männern 50+ besteht. Schon fast ermutigend wirkt sein Lächeln, etwa wenn niemand etwas sagt. Fast ausnahmslos tragen die Herren ordentlich sitzende Hemden, gepunktet oder gestreift in gedeckten Farben. Namentlich genannt oder erkennbar gemacht werden möchten sie nicht. Ein Kreis des Vertrauens sei die Frühschicht, in dem sie gemeinsam besinnlich den Tag beginnen, sagen sie. “Die Teilnehmerzahl schwankt immer ein bisschen”, erzählt der Pfarrer, “früher waren auch mehr Frauen mit dabei, aber die schaffen es momentan terminlich nicht.”

Über Respekt reden

Kurz nachdem sie sich gesetzt, Frühstücksbelage und Getränke hin und her gereicht haben, kommt aus der Runde der Wunsch, über Respekt zu reden, murmelnde Zustimmung. Gerold Vorländer hört aufmerksam zu, leicht zurückgelehnt in seinen Stuhl, bis er selbst etwas sagt und sich nach vorne lehnt. “Als Jugendlicher hat mein Sohn schon R-E-S-P-E-K-T gesagt”, dabei bewegt er seine rechte Hand im Takt seiner gedehnten Aussprache, “damit hat er Leistungen bewertet, die er besonders gut fand. Für mich hat Respekt zwei Bedeutungen: Lob, vor allem aber ein respektvolles Miteinander.” Zwischen seinen Sätzen klimpert hier und da eine Kaffeetasse, jemand räuspert sich, es wird flüsternd nach der Wurst oder einem weiteren Brötchen gefragt. Nach dem Frühstück gehen sie ins Gebäude nebenan in die Kapelle.

Bevor sich der Herrenkreis zur Andacht niederlässt, stellen sie akkurat die Stühle vom Rand im Halbkreis vor den schlichten Altar. “Soll ich die Tür zumachen?”, fragt einer der Gläubigen, Pfarrer Vorländer nickt. Gemeinsam sprechen sie einen Wallfahrtsspruch, es folgt eine Predigt, in der der Pfarrer betont, dass Gott die Welt den Menschen nur als Leihgabe vermacht habe. Ein Teil von ihnen schaut dabei auf den Boden, während der andere zum Pfarrer blickt, der links außen nah am E-Piano sitzt. Nach dem Vaterunser erhebt sich Gerold Vorländer und setzt sich an das Instrument. “Wie immer”, fordert er auf. Leicht nuschelig und leise fangen die Männer auf seinen Einsatz hin an zu singen. Hier ein leicht roter Kopf, da ein verstohlenes Lächeln. Fast so, als würden sie sich sagen, dass sie das schon gemeinsam schaffen. Kurz danach gegen 8.30 Uhr ist die Andacht vorbei und sie stellen die Stühle zusammen. “Haben wir schon?”, fragt einer der Teilnehmer einen der anderen, dieser schüttelt den Kopf. Beide geben sich die Hand: “Bis zum nächsten Mal.” Dann gehen sie nacheinander schwungvollen Schrittes durch die Glastür hinaus. Gerold Vorländer wirkt dagegen etwas hektisch, wie er aus der Tür hastet. Auf ihn wartet bereits der zweite Arbeitstermin des Tages, und auch der soll pünktlich beginnen.