Lit. Herbst #3 Allein mit der Welt

Die Autorin und Kolumnistin Mely Kiyak wollte in ihrem neuen Buch ursprünglich etwas zum “Frausein” schreiben, wurde letztlich dann aber doch erstaunlich persönlich in ihren Beobachtungen.

Mely Kiyak, Frausein
© 2020 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

Wenn eine Ausnahmekolumnistin wie Mely Kiyak ein Buch veröffentlicht, das den Titel “Frausein” trägt, rechnet man mit einer pointierten Polemik über den Stand des weiblichen Geschlechts. Doch weit gefehlt: Das Buch enttäuscht als intime Nabelschau gerade solche Erwartungen gekonnt. Und übertrifft sie schließlich. 

Es gibt aktuell kaum eine Gesellschaftsdebatte, zu der Mely Kiyak nicht eine Kolumne geschrieben hätte und in der alles Nötige gesagt ist. Jetzt hat die Ausnahmeautorin auch noch ein Buch geschrieben, Frausein heißt es. Frausein. Was für ein Titel, schlicht, plakativ, stark aufgeladen. Und erst einmal auf die falsche Fährte führend. Wird das jetzt eine buchgewordene Kolumne? Ein Brandbrief, der das frauenfeindliche Klima in der Gesellschaft, die immer noch vorherrschende systematische Benachteiligung von Frauen, die gar nicht so aufgeklärte Aufgeklärtheit grell ausleuchtet? Mitnichten. 

Vom Schwinden und (Zurecht-)finden (in) der Welt

Frausein ist ein ungewohnt persönliches Buch über Kiyak selbst, ein Stück autobiografische Prosa. Sie widmet sich ihrem Weg vom Kind zur schreibenden Frau, vom durch migrantische Wirklichkeiten eingeschränkten Aufwachsen zum emanzipierten Leben, das sie heute führt. Und so beginnt die Erzählung erst einmal mit dem Verlust des Sehens: “Ich schaute der Welt beim Wenigerwerden regelrecht zu – bis aus meinem Augenlicht allmählich Augendämmerung wurde.” Kiyak sah die Welt tatsächlich dahinschwinden. 

Der Umgang mit der Krankheit steckt den Rahmen, der Weg von der Kindheit zur Frauwerdung wird in Episoden erzählt, in denen die Autorin fortwährend immer schlechter sieht; zudem fehlt ihr lange auch der Blick für sich selbst. Zuallererst rein körperlich, verlautbart durch Sätze wie: “Ich habe keine Beziehung zu meinem Körper. […] Dass es einen Übergang vom Mädchen zur Frau gibt, ist mir nicht bekannt.” Nur wäre Mely Kiyak nicht sie selbst, wenn aus diesem physischen Hadern nicht irgendwann ein gesellschaftliches würde: “Ich wollte mit allem, was ich war, mit meinem Geschlecht, meinen Erfahrungen, meinem Elternhaus, unsichtbar bleiben. Der Kraftakt, vorhandene Unterschiede unbedingt negieren zu wollen, führt dazu, dass man zu einer schlechteren Version seiner selbst wird.”

So gelingt diesem Buch, das zuallererst persönlich ist, der Schwenk auf Deutschland. Und den Stand der Frau hier. Welchen Stand eine kurdisch-alevitische Gastarbeiterfamilie im Deutschland der 1970er Jahre und danach hat. Und mehr noch: Wie es ist, als Kind dieser Welt groß zu werden.

Teewurst für die Kinder

Und so liest man vom Amtsrichter, der der Putzfrauenmutter stets seine allzu zünftig bebutterten Teewurstsemmeln als Almosen “für Ihre Kinder” mitgab. Für ihn war das praktisch, ein Akt selbstloser Güte. Wie die Mutter allabendlich ihre Kinder zur Aufnahme dieser mittlerweile abgestandenen Delikatesse zwang, aus Respekt vor Richters Gnaden. “Der Hintergrund war stets derselbe: Das Gegenüber durfte auf keinen Fall sein Gesicht verlieren.” Lieber gab sie die Last der Teewurst weiter, “als sein schräges Bild über unsere Armut zu korrigieren”. – Kiyak klagt dabei nicht an, vielmehr wundert sie sich über das Schweigen ihrer Mutter, über die Lehrstunde in Demut, sich zu fügen, “jede Interpretation und Deutung über uns unkommentiert zur Kenntnis [zu] nehmen. Aufessen.”

Die Kinder der Mutter sollten bloß nicht Putzfrau werden. Überhaupt, Putzfrau sein. “Das Putzfrausein ist der Referenzpunkt für alles.” – Diesem Bild, diesem Zustand gilt es zu entfliehen. Nicht als selbstbestimmte Aufgabe, sondern als Erfüllung des elterlichen Glaubens. “Alles für die Mädchen. Damit sie es einmal besser haben. So trug man die Bürde, eine andere Frau zu werden. Eine sagenhafte Frau. Eine stolze Frau. Eine erfolgreiche Frau.”

Eine verzichtbare Frau

Kiyak erzählt von einem Aufwachsen, das weit abweicht vom gängigen Blick der der deutschen Mehrheitsgesellschaft auf ihre Ausländer. Wie sollte es auch anders sein? “Was es über uns zu erzählen gab, wurde fremderzählt.” Zum Beispiel von Günther Wallraff. “Obwohl Wallraff selbst aus kleinen Verhältnissen kam, entsetzten ihn die Erniedrigungen derart, dass er sein Buch nicht unten, halbunten oder mittelunten nannte, sondern: ‘Ganz Unten’.” Nur bleibt dies der Blickwinkel einer Gesellschaft, die sich abgrenzt. Stimmen aus dieser Welt wollte und will man oft nicht hören. Kiyak schreibt als “eine dieser Ali-Töchter, [als] das unbedeutende Kind unbedeutender Eltern” über einen Blick auf Gastarbeiterfamilien, der bis heute anhält: „Man soll eine Frau sein, die möglichst bald das Land verlässt. Man soll abreisen, verschwinden. Man ist eine verzichtbare Frau.“

Das liest sich hier weitaus düsterer, als die Tonart des Buches insgesamt ist. “Schreiben von unten” sei eine Art “Trümmerliteratur”, folge einer Erwartung, die die Autorin nicht (mehr) erfüllen kann, denn: “Herkunft ist kein manifester Zustand.[…] Ich bin kein Underdog. Nicht mehr. [… Es gilt] mein unbedingter Vorsatz, dies weder als Kapital noch als Schmuck und schon garnicht als Defizit mit mir zu tragen und auszustellen.” Literatur in Deutschland ist nicht dazu da, den Anspruch einer Leserschaft, “die glaubt, alles zu wissen und es hundertmal besser und verständlicher im Politikteil der Zeitung gelesen zu haben”, zu erfüllen. 

Und wahrlich gibt es in den Erzählungen Kiyaks viel zu entdecken, das fern von Defiziten ist. Die fast bedingungslose Förderung durch die Eltern, die zwar die Interessen der Tochter nicht verstanden, zur Förderung der Schreibbegeisterung aber alles gaben, was mit Stiften zu tun hatte – auch wenn es ein Insulinstift war. Die überbordende Liebe ihres Vaters, der eher sensibel wirkt, denn dem archaischen Bildnis eines Patriarchen entspricht. Die eher beiläufig geschehende Aufklärung durch die Cousinen im türkischen Bergdorf – die sich jegliche sexuellen Erfahrungen brühwarm mit poetischen Vergleichen berichten, damit auch die damals gänzlich unerfahrene Autorin das Geschehene erfassen kann: “Er habe sie ‘unten’ geküsst. Wo unten, fragte ich. Beide Cousinen kicherten. Na, unten halt. […] Sie beschrieb: Als lutsche man aus einer umgestülpten Feige das Fruchtfleisch heraus. […] Als würde man seine Zungenspitze in einen Sonnenblumenkern stecken und das Samenkorn herausjonglieren.”

Von der Scham, Teil dieser Gesellschaft zu sein

Es gibt urkomische Passagen über unbeholfene erste sexuelle Erfahrungen, dabei tatsächlich brennende Matratzen. Und letztlich über die Findung des Selbst, den Weg zur Schreibschule, zur Sprache, zur Person, die sie heute ist. Dazwischen gibt es allerlei Zweifel, einen als Paradebeispiel für Übergriffigkeit herhaltenden Lehrer, Schicksalsschläge, tatsächliche Schläge in Telefonzellen, Rassismus in eigentlich aufgeklärten Kreisen. Das innere Lachen beim Lesen wandelt sich in solchen Momenten schlagartig in ungläubiges Stocken.

Beim Lesen dieser Erlebnisse macht sich dann und wann ein Gefühl von Verbitterung breit. Das Buch löst eine tiefe Scham darüber aus, Teil dieser Gesellschaft zu sein. Das ist die Katharsis, auf die die Leseerfahrung hinausläuft und der eigentliche Spin von Frausein. Die Autorin ist in diesem Buch ganz bei sich und bietet eine zutiefst liebevolle Erklärung an das Selbst. Sie klagt nicht, sie bildet ab, sie fragt: “Warum beginnt man, nur weil man die Tochter eines Gastarbeiters ist, immer mit Mühsal und Mangel, bloß weil Mühsal und Mangel vorhanden waren? Warum sah ich nicht sofort das Vorhandene? Die Pracht, die aus sich heraus schon da ist? Warum strebt man nicht nach dem, was das Leben in sich birgt?” Diese stoisch wirkende Ausgeglichenheit ist es, die uns auf grandiose Weise den Spiegel vorhält und jede noch so gut gemeinte Teewurststulle nüchtern als das porträtiert, was sie ist: Ein Resteessen.

Mely Kiyak: Frausein, Hanser Literaturverlage, München 2020.