Lit. Herbst #4: Scheiß-drauf-Mentalität

In ihrem ersten Roman “Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin” beschreibt die österreichische Autorin und Künstlerin Stefanie Sargnagel ihre Jugend als Schulschwänzerin, Kifferin und Flaneurin in Wien. 

Stefanie Sargnagel hat mit “Dicht” einen (beinahe klassischen) Coming-of-Age-Roman vorgelegt. Foto: Apollonia Theresa Bitzan

Wien in den Nullerjahren. Mit Zeichnungen aus alten Schulheften und vollgekritzelten Zetteln bewirbt sich die damals 20 Jahre alte Stefanie Sargnagel an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Sie habe die Zeichnungen in einen “Plastiksackerl von Billa” gepackt, auf dem sie mit dickem Edding KUNST schrieb, schreibt Stefanie Sargnagel zum Ende ihres Debütsromans Dicht. Zwei Wochen später ist sie angenommen. Was danach im Leben von Stefanie Sargnagel passiert, ist bekannt: Es ist nicht ihre Kunst, die die Wienerin auch über die Grenzen von Österreich bekannt werden lässt, es sind ihre Posts auf ihren Social-Media-Kanälen, die sie zu so etwas wie einer Kultfigur im Internet werden lassen. Überspitzt greift sie in kurzen Texten absurde Gespräche und Beobachtungen aus ihrem Leben, aus ihrem Job im Call-Center und aus ihrem Dauerkunststudium auf. Im Netz bekommt sie dafür so viel Aufmerksamkeit, dass ihre gefeierten Anekdoten gesammelt in Buchform veröffentlicht werden. Sie wird zu so etwas wie einer Facebook-Schriftstellerin. Passend dazu ihr Markenzeichen: eine rote Baskenmütze. 

Wie aber Stefanie Sargnagels Leben vor ihrer Bewerbung an der Kunstakademie aussah, hat sie nun in ihrem ersten Roman aufgeschrieben. Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin heißt ihr autobiografischer Künstlerinnenroman, der im Rowohlt-Verlag erschienen ist und in dem sich Sargnagel als junge Frau vorstellt. Nicht wie üblich in Zweizeilern, sondern in Langform erzählt sie, wie sie zu dem wurde, was sie heute ist: Eine Internet-Ikone und Preisträgerin des Ingeborg-Bachmann-Publikumspreises, die derzeit sogar vor der Kamera steht, um eine Doku-Komödie über ihr Leben zu drehen. 

Die rote Baskenmütze hat sie abgelegt

Aufgewachsen im Arbeitermilieu – ihre Mutter ist Pflegerin, ihr Vater Elektriker – erzählt Stefanie Sargnagel von ihren anarchischen Jugendjahren, die sie hauptsächlich damit verbrachte, durch ihre Heimatstadt Wien zu streunen. Damals, zwischen 15 und 20 Jahren, habe sie “viele arge Sachen erlebt” und eine “Scheiß-drauf-Mentalität” gehabt, “mit der man einfach in die ärgsten Situationen gerät”, wie sie gleich zu Beginn schreibt. Heute, mit Mitte 30, sei ihr Alltag doch ziemlich langweilig, steht dort. Auch die Baskenmütze hat sie mittlerweile abgelegt. Also geht es für ihren ersten Roman zurück in eine Zeit, in der sie in der Stadt herumtrieb, Nächte durchmachte, allerlei Drogen konsumierte und sich verbrauchte. 

“Wie der wüsteste Straßenpunk” habe sie sich damals zwischen all den gleichaltrigen Ärztekindern gefühlt, “die außer Klavierunterricht und Tanzschule kaum Freizeitbeschäftigungen hatten.” Die junge Stefanie – im Roman Steffi genannt – und ihre Freundin Sarah verbringen ihre Nachmittage in irgendwelchen Parks, wie der am Stadtrand gelegenen Türkenschanzpark oder die Votivwiese, wo sie auf Punks, Intellektuelle oder Künstler*innen treffen. Hier wird philosophiert, politisiert, gekifft und Dosenbier getrunken. Für Steffi sind all diese Menschen viel interessanter als die Schule. Wenn es kälter wird, zieht es sie in Wiener Kneipen wie dem Café Stadtbahn, ein alternatives Refugium im stockbürgerlichen 18. Quartier von Wien oder vor Clubs wie dem Flex  – nicht zum Feiern, sondern nur zum Davorsitzen, wo sie von Dealern und anderen seltsamen Vögeln umschwirrt werden, “wie Toastbrote von ausgehungerten Straßentauben”.

Alkoholismus und Arbeitslosigkeit

Doch der eigentliche Protagonist des Romans ist der knapp 40-jährige Michi, von vielen auch “Der Aids-Michl” genannt, weil er sich in San Francisco, während seiner “schwulen Phase”, mit HIV angesteckt habe. “Ein flashiger Typ”, wie Steffi ihn beschreibt. Seine 30 Quadratmeter Erdgeschosswohnung im Wiener Außenbezirk Währing wird für Steffi und ihre Freund*innen zu einer Art Jugendtreff, wo sie Lieder von Georg Kreisler singen und kiffend die Weltrevolution planen. Michi ist ein Freigeist und sprachverliebter Lebenskünstler, der trotz seines Alkoholismus und seiner Arbeitslosigkeit niemals ratlos in den leeren Tag blickt und alles mit seinem Lieblingsspruch: “Vom Feinsten”, beendet. Und er ist es auch, der Sargnagel in ihrer Sprachkreativität prägt: “Er kreierte Wortneuschöpfungen und machte leichtfüßige Wortwitze, die über den Tisch in die bekiffte Runde tänzelten, die sie freudig aufnahm.” Steffi schaut zu diesem genialen, wenn auch kaputten Freund herauf und beschreibt in Dicht sein unzerstörbares Urvertrauen in die Menschen, wie er auf sie zugeht und ihnen mitteilt, was ihm auf der Zunge liegt: “Für Michi ist die Welt wie ein Spielplatz”, schreibt sie voller Bewunderung.  

Mit ihrem Roman beweist die Autorin, dass ihre Gabe für bissige, scharfe Beobachtungen und Sprachwitz nicht nur in kurzen Social-Media-Beiträgen, sondern auch in Langform funktionieren. Mal derb, mal skurril, mal abgrundtief lustig – die knapp 250 Seiten lesen sich dank ihrer klarer Sprache schnell und mit viel Freude. Lose greift sie Dinge aus ihrem jugendlichen Leben auf und überspitzt sie schonungslos selbstironisch. Zielscheibe ihrer Pointen ist meist sie selbst: “Ich fühlte mich mädchenhafter als je zuvor, auch wenn ich mich gendermäßig sonst eher den Landstreichern zurechnete.” Oder wenn sie von ihren zahlreichen Drogenexperimenten berichtet, wie bei einer Reise nach Amsterdam, wo sie sich in einem Headshop hawaiianische Pilze kaufte: “Ich war nicht mehr sicher, ob mein Blut noch floss, und betastete meinen Puls. Dann hatte ich ein Gefühl, als ob ich mich gerade anschiss.” Und während die Nächte immer länger und die Drogen immer härter werden, wird die Schule immer problematischer: Nach und nach verliert Steffi den Status einer Einserschülerin, bis ihr die Direktorin schließlich mitteilt, dass ihre Teilnahme am Unterricht nicht länger erwünscht ist. Sie bricht die Schule kurz vor dem Abitur ab. In ihrer Clique wird sie zwar für ihren Mut bewundert, bei ihrer Mutter löst der Schulabbruch Kummer aus. Ihr zur Liebe holt sie ihr Matura an einer Abendschule nach und bewirbt sich kurze Zeit später an der Kunsthochschule. 

Der Titel des Romans Dicht steht für vieles: Drogenkonsum, Geisteszustand, aber auch die Fülle an Figuren, Erlebnissen, Anekdoten und Schauplätzen. Er ist eben nicht nur eine Coming-of-Age-Geschichte, die den Werdegang der Künstlerin widerspiegelt. Stefanie Sargnagel hat ein Porträt über ihr Milieu und ihr Umfeld geschrieben, das sie in ihrem künstlerischen Schaffen geprägt hat. Über die alternativ-punkigen Außenseiter*innen, über die kaputten, aber talentierten Tagediebe und all denen, die sich den klassischen Leistungsmechanismen verweigert haben. 

Foto: Rowohlt Verlag

Stefanie Sargnagel: Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin. Rowohlt Verlag, 2020.