09. December 2020
Anna-Lena SchlittEine Frage der Menschlichkeit
“Wer ich bin und was ich kann, ist nicht abhängig von diesem Titel. Was mich als Mensch ausmacht, liegt nicht in diesem akademischen Grad begründet” – verbunden mit Respekts- und Solidaritätsbekundungen teilt die SPD Berlin eine handgeschriebene Botschaft von Bundesfamilienministerin Dr. Franziska Giffey auf Twitter. Die Ministerin selbst verkündet kurz zuvor in einem offiziellen Statement, künftig ihren Doktortitel nicht mehr führen zu wollen. Grund dafür: das Wiederaufflammen der Plagiatsaffäre um ihre Dissertation.
Die Arbeit, mit der Giffey 2010 promoviert wurde, soll von der Freien Universität Berlin erneut geprüft werden. Eine erste Untersuchung der Arbeit zeigte bereits vor eineinhalb Jahren, an mindestens 27 Stellen sei der Bestand der objektiven Täuschung erfüllt. Damals gab es nur eine Rüge, ihren Doktortitel durfte Giffey behalten. Ein neues Gutachten könnte nun das Ende des ohnehin schon angekratzten Titels bedeuten – und so entschied die Familienministerin kurzerhand, den “Dr. rer. pol.” nicht mehr zu führen, um “weiteren Schaden von meiner Familie, meiner politischen Arbeit und meiner Partei abzuwenden”.
Zur Schadensbegrenzung greift sie tief in die rhetorische Trickkiste. “Wer ich bin” und “Was mich als Mensch ausmacht”, schreibt sie also mit blauer Tinte auf Papier und macht unmissverständlich klar: Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ein Mensch mit Familie, ein Mensch, der hart gearbeitet hat und nun seinen Job verlieren könnte.
Warum zeigt sich Giffey so verletzlich, könnte man da fragen, hagelt es doch von allen Seiten Kritik und Rücktrittsforderungen. Die Antwort: Gerade deshalb. Sie verschiebt den Fokus der Debatte vom Öffentlichen ins Private, macht sich als Privatperson zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Giffeys Verweis auf ihr Menschsein ist ein Appell an die Menschlichkeit ihrer Mitmenschen.
Die Frage der Menschlichkeit ist von je her eine der Moral. Menschlich ist, wer Gutes tut, wohingegen der Unmensch Schlechtes verkörpert. Der Humanismus beschäftigt sich bereits seit dem 14. Jahrhundert mit dem Wesen des Menschen. Abgeleitet von dem lateinischen Begriff der “Humanitas” (Menschlichkeit), sucht er nach dem “guten Menschen”. Das Gesellschaftsideal des Humanismus beschreibt letztlich das Streben nach Menschlichkeit.
Spricht Giffey von ihrem Menschsein, appelliert sie also an eine humanistische Grundhaltung. Ein geschickter Schachzug, denn wünscht man ihr als Mensch einen “Schaden”, noch dazu einen “weiteren”? Wohl kaum – das wäre ja unmenschlich. Viel eher provoziert eine solche Aussage Mitleid – mit Erfolg, wie die Berichterstattung beweist: Die Familienministerin “verzichtet” auf ihren Doktortitel, heißt es, ohne dass Giffey selbst von einem Verzicht gesprochen hätte.
Damit entzieht sich Giffey einem Shitstorm, der sie als plagiierende Ministerin, der zurecht der Doktortitel aberkannt wird, an den Pranger stellt. Besser noch: Sie erzählt die Geschichte einer selbstlosen Frau, die großmütig auf ihren hart erarbeiteten Titel verzichtet: für ihre Familie, für ihre Partei – und natürlich nicht für sich selbst. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass man auf einen Doktortitel nicht einfach verzichten kann. Dieser kann nur von der Universität entzogen werden.
Interessanterweise hat Humanismus, den Giffey hinsichtlich seiner Menschenliebe strapaziert, seine Wurzeln in einer Bildungsbewegung. Das gesamte humanistische Bildungsprogramm beruht, in Rückbesinnung auf die griechische und römische Antike, auf der produktiven Aneignung der “bonae litterae”, beziehungsweise der “guten Wissenschaften”, die nach Erasmus von Rotterdam “erst den Menschen ausmachen”.
Giffey hingegen behauptet – wie bereits erwähnt – das Gegenteil: “Was mich als Mensch ausmacht, liegt nicht in diesem akademischen Grad begründet”. Ja, was denn nun? Macht die Aneignung der Wissenschaften beziehungsweise das Erlangen eines bestimmten akademischen Grades den Menschen aus, oder nicht? Die Antwort auf diese Frage findet sich in dem kleinen Wörtchen “gut”. Erasmus von Rotterdam hatte, als er von den “guten Wissenschaften” sprach, wohl keine Plagiate im Sinn.