Leise Schritte des Protests

300 Kilometer läuft Nicola, der Vater in dem gleichnamigen serbischen Drama, von aus seinem Heimatdorf nach Belgrad, um seine Kinder wiederzubekommen. Regisseur Srdan Golubović zeigt eine beeindruckende Geschichte über die Frustrationen, die Würde und den Zorn der von der Gesellschaft Abgehängten.

In “Vater” muss Protagonist Nicola um das Sorgerecht für seine Kinder kämpfen. Foto: Maja Medić

Mehr als 300 Kilometer ist Nicola aus seinem Heimatdorf nach Belgrad gelaufen – aus Protest. Das Jugendamt hat ihm seine Kinder genommen. Mit der Begründung, er könne für sie allein nicht sorgen. Seitdem er seine Stelle in der Fabrik im Dorf verloren hat, arbeitet er als Tagelöhner. Seine Frau liegt nach einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus. Um eine Beschwerde beim Minister persönlich einzureichen, machte er sich auf den Weg nach Belgrad.
Um Nicola dreht sich alles in dem serbischen Drama Vater von Srdan Golubović.  Das Besondere an dem Film: Die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Regisseur Srdan Golubović traf den wahren Nicola, als dieser bereits protestierend vor dem Ministerium in Belgrad saß. Er sprach mit ihm und war fasziniert von seiner Geschichte. So entstand die Idee zum Film. Es ist Golubovićs vierter Film, besonders bekannt ist der Filmemacher für Die Falle, der als bester fremdsprachiger Film für den Oscar nominiert war.

In dem Spielfilm Vater, der auf der Berlinale mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde, durchlebt man mit dem Protagonisten Nicola eine Heldenreise. Doch der Held ist auf dieser Reise allein. Dabei schaut ihm die Kamera über die Schulter, verfolgt ihn auf Schritt und Tritt. Die Bilder, die auf dieser Wanderung entstehen, sind melancholisch schön. Nicola zieht durch weiche, goldene Grasfelder, durch Wälder und kleine serbische Dörfer, in denen Jugendliche auf Motorrädern herumhängen. Es ist diese naturalistische Darstellung der Wanderung, die einen als Zuschauer:in die Qualen des Protagonisten miterleben lässt. Tagelang bricht er sich aus der immer gleichen roten Plastiktüte ein weiteres winziges Stück Brot ab. Nachts schläft man mit ihm mit der Angst ein, angegriffen oder ausgeraubt zu werden. 


Es ist ein leiser Film, der ohne Musik auskommt. Man hört lediglich das Rauschen der Autobahn oder das Zwitschern der Vögel im Hintergrund. Getragen wird der Film von seinem Protagonisten. Dabei lassen sich aus Nicolas Gesicht selten intensive Emotionen ablesen. Wie sein Inneres ist Nicolas Äußeres von dem Kampf gegen Frustrationen geprägt, doch der Familienvater wahrt die ganze Zeit kämpferisch sein Gesicht. Desto ergreifender sind die Szenen, wenn er seine Fassung für einen Moment verliert. Wenn er vor Dankbarkeit in Tränen ausbricht, als ihm zwei Passanten eine Mahlzeit vor das Ministerium bringen. Oder als sein Sohn von seinem Pflegevater rabiat ins Auto gedrängt wird und er ihn anbrüllt aufzuhören. 

Auf seiner Wanderung begegnet Nicola immer wieder Menschen, die ähnlich wie er von einer absoluten Hoffnungslosigkeit erfasst sind. Da sind seine alten Arbeitskollegen, die wie Nicola ihre Jobs verloren haben, ohne jemals eine Abfindung zu bekommen. Da sind seine Nachbarn, die wie er am Rande des Existenzminimums leben. Dabei gibt es in Vater immer zwei Seiten. Die derer, die aus dieser Hoffnungslosigkeit heraus kriminell werden, andere betrügen oder beklauen. Aber es gibt eben auch jene andere von Menschen wie Nicola, die das gleiche Schicksal erlitten haben und trotzdem das Gute in sich bewahren. Dabei wirft Vater essenzielle Fragen der Freiheit auf. Ist eine Gesellschaft wirklich frei, wenn Armut darüber entscheidet, ob man Kinder haben darf? Macht Armut unfrei? Vater ist dabei wie ein Spiegel der serbischen Gesellschaft, in der sich der Traum des westlichen Wohlstands für nur einige wenige erfüllt. Nicola ist einer der Verlierer, der Orientierungslosen.  Einer derer, die sich in diesem System ohne Bildung und Wohlstand nicht etablieren konnten. Mit Nicola hat Srdan Golubović einen so starken Charakter geschaffen, der trotz der Frustrationen, die ihm tagtäglich passieren, seine Würde bewahrt. Seinen Zorn trägt er nicht nach außen, er behält ihn für sich – und er gibt nicht auf. Nicola repräsentiert den stillen Kampf gegen die Ungerechtigkeit, seine Wanderung ist ein leiser Appell an die Freiheit jedes Einzelnen, auch wenn diese Freiheit manchmal begrenzt ist.