13. December 2020
Chi NguyenOde an die Phở
Viele kennen sie. Viele lieben sie. Und viele streiten sich über ihre Aussprache. Phở ([fəː˧˩˧]) ist viel mehr als nur Liebling der Berliner Foodies. Unsere Autorin Chi Nguyen erzählt von ihrer Liebe zur Suppe.

Die Fenster sind beschlagen. Aus der Küche meiner Mutter ertönt ein schnulziger vietnamesischer Popsong. Der Duft von gerösteten Zimtstangen, Zwiebeln und Ingwer hat bereits das gesamte Treppenhaus ausgefüllt. Dieser Geruch erdet mich und bedeutet vor allem eins: Ich bin zu Hause.
So wie jeden Samstag in der Wohnung meiner Mutter, duftet es auch auf den Straßen von Hanoi. Jeden Tag und zu jeder Stunde. Egal ob in den erdrückenden Sommernächten, in denen der tropfende Schweiß im Handumdrehen einen Brühetopf füllen könnte oder in den kühlen Morgenstunden im Herbst, bevor der tägliche Monsunregen fällt. Wie viele Schüsseln Phở wohl dort an einem Tag in serviert werden?
In Berlin sind es an diesem Samstag drei. Meine Mutter mag es am liebsten kochend heiß. Sie sagt, dass Phở so heiß sein muss, damit der Körper alle Krankheitserreger bekämpfen kann. Das sei besonders zur jetzigen Zeit wichtig. Frisches Thai-Chili assistiert der inneren Desinfektion.
Während ich noch zögerlich auf die langen Reisbandnudeln, die ein langes Leben symbolisieren, puste, lehnt meine Mutter sich zufrieden zurück. Ihr Gesicht sagt alles: Sie hat sich mal wieder selbst übertroffen.
Phở zum Frühstück
Richtige Phở-Connoisseure wissen, dass die beste Schüssel Phở zum Frühstück gegessen wird. Am besten an einer lauten Hanoier Straßenecke, sitzend auf winzigen Plastikhockern zwischen Geschäftsleuten in Anzügen und Jugendlichen in Schuluniform. Alle genüsslich und laut am Schlürfen. Das ist eine ganz besondere Art der Glückseligkeit. Das Land lebt von den alten Damen, die seit Jahrzehnten jeden Morgen ihre Suppe verkaufen und bereits jegliche Hitzeempfindlichkeit in ihren Fingern verloren haben.

In Vietnam gibt es viele Differenzen, historisch bedingt auch viel Feindseligkeit. Das Land ist immer noch dabei, die zwei Kriege und die damit verbundene Teilung in Nord- und Südvietnam zu verarbeiten. Es scheint, als würde es nie zur Ruhe kommen können. Erst im Oktober wurde vor allem Zentralvietnam von mehreren starken Tropenstürmen getroffen, die zu den schlimmsten Überschwemmungen seit 20 Jahren führten. Mindestens 280 Menschen starben, 66 werden vermisst und unzählige Existenzen wurden weggespült. Während ich mit meiner Familie am Esstisch sitze, werde ich wehmütig. Wieviele Neuanfänge mussten die Vietnames*innen bereits durchleben? Bisher haben sie jeden gemeistert – einfach weil sie es mussten. Den vietnamesischen Staatsmedien zufolge ist das Wasser nun abgeflossen. Was bleibt, sind Zerstörungen in Milliardenhöhe. Aber auch die Straßenecken, die darauf warten, dass die Garküchen wieder aufgebaut werden. Miniatur-Plastikhocker, die aufgestellt werden und hungrige Mägen, die gefüllt werden wollen. So war es und wird es auch immer bleiben: Früher oder später sitzen dort wieder die Damen und verkaufen Phở en masse.
Phở stammt vermutlich vom “Pot au feu” ab
Die genauen Ursprünge der Nudelsuppe sind unklar. Es wird vermutet, dass das heutige vietnamesische Nationalgericht vom französischen “Pot au feu” abstammt. Die moderne Version von Phở soll im 19. Jahrhundert in Nordvietnam entwickelt worden sein. Während der französischen Kolonialzeit stieg die Nachfrage nach Rindfleisch. Durch die Franzosen wurden Rinder nicht mehr nur als Nutztiere betrachtet. Die Rinderknochen, die als Abfall übrig blieben, wurden von Arbeiter*innen an der vietnamesisch-chinesischen Grenze zu Brühe verarbeitet. Mit der Zeit wurde das Gericht immer beliebter und wanderte aus dem Norden in den Süden. Heute gibt es aus jeder Provinz spezielle Phở-Variationen, und die unendliche Suche nach der besten Nudelsuppe ist so zielführend wie die Suche nach der besten Pizza in Italien.
Phở ist mittlerweile ein international bekanntes und geliebtes Gericht. So beliebt, dass der Sender CNN ihm unter den “50 besten Gerichten” weltweit Platz 28 verlieh. Vietnamesische Migrant*innen, die vor dem Krieg flohen oder auf der Suche nach einem besseren Leben waren, hatten sicherlich nicht die Intention, irgendwann auf solch einer Liste zu landen. Sie siedelten in den fremden Westen und trugen wie eine Schnecke ihr Zuhause mit sich. Ein Zuhause, das oft nur der Geruch von gerösteten Zimtstangen, Zwiebeln und Ingwer ist.