Lit. Herbst #6 Incels – radikalisierte, toxische Männer

Seit etwa einem Jahr kursiert der Begriff Incels immer häufiger im deutschsprachigen Raum. Veronika Kracher ist mit ihren Recherchen tief in die Onlinenetzwerke dieser misogynen Szene vorgedrungen und hat in diesem Herbst das erste deutschsprachige Buch zum Thema herausgebracht: “Incels – Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults”. 

Die Autorin Veronika Kracher
© Ventil Verlag

Incels, das sind junge Männer, die noch keinen Sex hatten und Frauen dafür verantwortlich machen. Abgeleitet ist der Begriff von involuntary celebates – also unfreiwillig im Zölibat Lebende. Sie hegen einen gewissen Selbsthass, tauschen sich im Netz über Gewaltphantasien aus, sind frustriert und aggressiv im Ton, und einige greifen sogar zur Waffe. Diese Männer sind der Meinung, Sex sei ein Grundrecht, das ihnen durch den Feminismus und die sexuelle Revolution verweigert würde. Frauen seien, “oberflächliche Schlampen (…), die nur mit gottesgleichen Klischeezeichnungen von Hypermaskulinität, sogenannten ‘Chads’ schlafen, denn alle Männer, die nicht den weiblichen Anforderungen von Attraktivität entsprechen, hätten den sexuellen Wettbewerb schon lange verloren”, so beschreibt Veronika Kracher in ihrem, im Herbst im Ventil Verlag erschienenen Buch Incels – Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults diese Subkultur.  Es ist das erste deutschsprachige Sachbuch zu diesem Thema. “Ich habe mich während der Recherchen ertappt, wie ich durch die Stadt gelaufen bin und bei vorbeilaufenden Typen kurz so dachte: Ah ja, voll der Chad”, erzählt sie in einem Interview.

“Eigentlich würde ich dieses Buch lieber gar nicht schreiben müssen”, verkündet die Autorin, die regelmäßig in konkret, Jungle World und Neues Deutschland publiziert und sich in der Vergangenheit bereits mit der Alt-Right-Bewegung und anderen rechtsextremen Gruppierungen beschäftigt hat, gleich zu Beginn ihres Buches. Stattdessen hätte sie lieber Katzen gekrault oder mit der besten Freundin Champagner getrunken. Aber sie findet: “Irgendeine muss es ja tun!” In Deutschland wurde der Incel-Onlinekult bislang nur wenig erforscht. Veronika Kracher leistet damit wichtige Aufklärungsarbeit und offenbart dabei dem*r Leser*in erschreckende Fakten. 

In Onlineforen, in die sich Veronika Kracher zu Recherchezwecken eingeschleust hat, bestärken sich die Incels gegenseitig in ihren Annahmen und spinnen diffuse Verhaltensstrategien. Von plastischer Chirurgie, über Frauen beleidigen oder erniedrigen bis hin zu Suizid(gedanken) oder Attentatsplänen ist alles dabei. Mit Memes, eigenen Ausdrücken und einem konstruierten Weltbild radikalisieren sich diese Männer gegenseitig. Nicht-weiße Incels haben oft Rassismus internalisiert. Indisch-pakistanische Incels bezeichnen sich zum Beispiel als “Currycels”. 

Von Incels verübte Attentate

International gab es in den letzten Jahren einige Attentate, die von Incels verübt wurden, zum Beispiel in Santa Barbara oder Toronto. Spätestens seit dem Attentat in Halle im Spätherbst 2019 ist der Begriff auch im deutschsprachigen Raum einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Der antisemitische und rechtsradikale Attentäter wollte an Jom Kippur bewaffnet in die Synagoge eindringen. Als das nicht gelang, erschoss er auf der Straße Jana S. und in einem Imbiss Kevin L. Schnell wurde von vielen Medien spekuliert, ob der Täter wegen seines Hasses auf Frauen der Incels-Community angehörte. In ihrem Buch schreibt Veronika Kracher, dass die Tat “kein explizites Incel-Attentat”, gewesen sei, dass der Täter anscheinend aber Kontakt zur Incel-Szene gehabt habe. Es wurde klar: Wir als Gesellschaft hatten bis dato weder eine Ahnung, dass es Incels überhaupt gibt, geschweige denn, was ein Incel-Attentat überhaupt ausmacht. 

Die Attentate schätzt Veronika Kracher als Rache “an der modernen Welt mit ihrem Feminismus und Kosmopolitismus” ein. Sie beschreibt die radikalisierten Incels so: “Narzisstisch gekränkte junge Männer, für die der Terroranschlag eine Form der Wiedergutmachung der gefühlten Ungerechtigkeit war, nicht die Anerkennung, die Liebe und den Ruhm vor die Füße und die Schlüpfer williger junger Frauen an den Kopf geworfen zu bekommen, sondern tagtäglich erfahren zu müssen, ein unbedeutender Loser zu sein wie alle anderen auch – obwohl man sich selbst zu Größerem berufen fühlt.”

Trotz der düsteren Thematik schafft Veronika Kracher es, den Leser*innen durch ihren trockenen, teils ironischen Unterton ein empörtes Schmunzeln herauszulocken. Sie schildert die Entstehung der Incel-Community, gibt einen Überblick über die verschiedenen Subgruppen innerhalb der Szene und zeigt, wer diese Communitymitglieder überhaupt sind: Sie sind vor allem jung, der Großteil zwischen 18 und 24 Jahren, einige aber auch minderjährig. Und bis zu einem gewissen Grad privilegiert, sonst könnten sie es sich auch nicht leisten, so viele Stunden vor dem PC in Online-Foren abzuhängen, gibt Veronika Kracher zu bedenken.

Krisenhafte Männlichkeit

Das Buch holt Leser*innen auch mit unterschiedlich fundiertem Vorwissen ab und verschafft einen guten Überblick über die Entstehung, die Ideologie und die Vernetzung der Incels. Veronika Kracher sucht die Ursprünge für die Incel-Ideologie in unserer patriarchalen Gesellschaft. Sie findet immer wieder Querbezüge und Verknüpfungen zu anderen antifeministischen Akteur*innen wie zum Beispiel den sogenannten Pick-up-Artists. Außerdem macht sie Lesende auf die Tragweite des Problems toxischer Männlichkeit aufmerksam. Sie schreibt: “Diese Unfähigkeit, sich mit gesellschaftlichem Fortschritt zu beschäftigen sowie die Tatsache, dass das althergebrachte Bild des Mannes als Ernährer, Beschützer und Krone der Schöpfung ins Wanken geraten ist, werden gemeinhin als ‘Krise der Männlichkeit’ betrachtet.” Für Veronika Kracher unterschlage diese Ansicht aber, dass Männlichkeit an sich krisenhaft sei. Denn die Konstruktion von Männlichkeit, wie sie in unserer Gesellschaft definiert wird, sei auf eine Abwertung des Weiblichen angewiesen.  Die Autorin stellt in ihrem Buch patriarchale Strukturen unserer Gesellschaft explizit in Frage.

Eine wichtige Frage bleibt offen: Wie gefährlich sind Incels? Das kann auch Veronika Kracher nicht mit letzter Sicherheit beantworten: “Ihre Wut kann sich radikal äußern. Einerseits in Gewalt gegen sich selbst mittels eines Suizids oder in Gewalt gegen Andere: Frauen online beleidigen, Frauen in der Bahn schubsen oder in Form von sexualisierter Gewalt. Ein beliebter Trend war lange Zeit, dass man sich auf Datingportalen als attraktiver Mann ausgibt, mit Frauen schreibt, sie nach Nacktbilder fragt und sie anschließend mit der Veröffentlichung erpresst. Manche Incels tauchen auf Dates auf, beschimpfen die Frau, filmen sie und stellen es ins Internet. Und natürlich kann es auch zum Femizid kommen.”
Bei misogynen Straftaten wurde bisher meist nicht nach Incel-Background der Täter ermittelt. Wie viele Incels Straftaten begehen, ist somit nicht erfasst. Ein blinder Fleck der Strafverfolgung? Veronika Krachers Recherche ist also nicht nur für patriarchatskritische Bubbles wichtig: Die Gesellschaft sollte Incels auf dem Schirm haben, um gegen sie und ihre Straftaten in Zukunft vorgehen zu können. 

Veronika Kracher: Incels – Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults, Ventil Verlag, 2020

Linda Peikert hat mit der Autorin Veronika Kracher ein Interview für das feministische Magazin an.schläge geführt.