20. December 2020
Anna-Lena Schlittdie Type: Madita
Sailor Moon, R2-D2 oder die Tigerente – es gibt Figuren der (Pop)Kultur, die uns besonders geprägt haben – und auch heute noch Idole sind. Unserer Textkategorie “die Type” ist die Ahnengalerie von Praxis. Hier sammelt sich, wer Einfluss hat und hatte: Held*innen des Alltags und Lieblingsbösewichte. Egal, ob aus Film, Serie, Buch, Comic oder Hörspiel. Wir zeigen, welche Fiktionen uns gefärbt haben und warum.

Good Girl oder Bad Girl? Den Unterschied macht – heute wie zu Zeiten Astrid Lindgrens – das kleine Wörtchen “brav”. Gute Mädchen tollen nicht, raufen nicht, schreien nicht, sie lachen nicht zu laut und machen sich nicht schmutzig. Gute Mädchen halten sich an Regeln. Gute Mädchen sind brav. Lindgrens Titelheldin Madita ist nicht brav. Nicht, dass sie es nicht versucht hätte. Aber ihr kommen die verrückten Einfälle schneller als ein Ferkel blinzelt, da sind sich in Birkenlund alle einig.
Madita ist sieben Jahre alt und heißt eigentlich Margaretha. Als kleines Mädchen nannte sie sich selbst Madita – der Name ist geblieben. Nur wenn sie etwas angestellt hat, wird sie Margaretha genannt. Und das passiert ziemlich oft.
Madita wächst so behütet auf, dass sie nur auf dumme Gedanken kommen kann. Sie lebt auf dem Land – genauer gesagt im schwedischen Birkenlund, in einem großen roten Haus direkt am Fluss. Mit ihren Eltern, ihrer kleinen Schwester Elisabet – die eigentlich immer Lisabet heißen darf – , Hausmädchen Alva, Hund Sasso und Kater Gosan. Ein Kleinfamilienidyll.
Um der Langeweile zu entfliehen, heckt Madita so allerlei aus. Als ihr Nachbar Abbe vom Fallschirmspringen erzählt, beschließt sie, das gleich einmal selbst auszuprobieren. Kurzerhand schnappt sie sich die kleine Schwester und Vaters großen Regenschirm und erklimmt das heimische Schuppendach. Sie will fliegen, da kann Lisabet noch so oft sagen: “Du bist bestimmt verdreht, Madita. Das bist du apselut.” Doch Madita ist stur – und springt trotzdem. Tot, wie von Lisabet befürchtet, ist sie zwar nicht, eine Gehirnerschütterung hat sie trotzdem.
Madita denkt selten über die Folgen ihres Handelns nach – außer hinterher. Und dann bereut sie, was sie getan hat und ist traurig. Besonders lang hält die Katharsis allerdings selten an. Kaum ist Madita wieder auf den Beinen, schon hat sie die nächste verrückte Idee: Sie steckt Lisabet in einen Waschzuber und schubst sie in den Fluss – “Moses im Schilf” heißt das bibelinspirierte Spiel, das für beide mit einem Schiff- bzw. Waschzuberbruch endet.
Nichts, was Madita anstellt, geschieht aus bösem Willen – ganz im Gegenteil. Die meisten Dummheiten sind Folge ihrer brennenden Neugier, befeuert durch ihre unbändige Fantasie. Und so kommt es auch, dass Madita eines Nachts mit Nachbar Abbe in der Waschküche steht und nach einem Gespenst sucht: Graf Abbe Nilsson Krähenkralle. Dass Abbe sie nur veralbert, ist unverzeihlich.
Mit Madita sollte man es sich lieber nicht verscherzen: Wird sie wütend, dann fliegen schon einmal die Fäuste. Als Mitschülerin Lause-Mia ihrer kleinen Schwester dumm kommt, gibt es eine handfeste Prügelei. Hinterher hat Madita nicht nur eine blutige Nase, sondern auch noch Läuse. Doch die Blessuren nimmt sie gern in Kauf: Schließlich war die Prügelei für einen guten Zweck – und die Nase heilt auch wieder. Doch auch für die beiden Raufboldinnen gibt es ein Happy End: Eine Entlausungskur später sind sie Freundinnen.
Lindgrens Madita ist ein waschechter (entlauster) Lausebengel – eine Bengelin, um genau zu sein. Eine solche Seltenheit, dass es dafür nicht einmal ein Wort zu geben scheint. Madita erkämpft Räume für Mädchen, wo vorher keine waren. Zeigt: Wilde Abenteuer und wahre Freundschaft – das klappt nicht, wenn man sich immer an die Regeln hält. Man muss auch mal laut sein und sich schmutzig machen. Ob es dazu unbedingt eine Prügelei braucht, sei dahingestellt, aber eines steht fest: Brav sein ist so “anno dazumal”. Was das heißt, weiß Madita natürlich: “Alles handelt nur davon, was die Leute früher getan haben. Die armen Leute, müssen die sich gelangweilt haben!”
Lernen kann man von Madita aber nicht nur, wie man kein braves Mädchen ist, sondern auch wie man das Leben in sich spürt, was ein Seligkeitsding ist und wie man “spickuliert”.
Astrid Lindgren: Madita, Friedrich Oetinger Verlag, 1992