Hotpot der schiefen Töne

Ich war auf einer vietnamesischen Karaoke-Party – und das Berliner Nachtleben ist nichts dagegen.

Der Anlass ist ein 50. Geburtstag. Ich betrete die bunt beleuchtete Location für den heutigen Abend. Das vietnamesische Restaurant, in dem tagsüber Büroleute aus der Umgebung zu Mittag essen, wurde in eine glitzernde Party-Location verwandelt. Zwei lange Tischreihen und ein Kindertisch. Mein Platz ist natürlich am Kindertisch, denn meine Volljährigkeit bedeutet hier rein gar nichts. Ich sitze zusammen mit einer Freundin, die auch seit sie denken kann zu diesen Partys geschleppt wird. 

Das wichtigste zuerst: Essen. Eine Viet-Party bei der kein Essen serviert wird, ist unvorstellbar. Als ersten Gang gibt es Klebreis, pochiertes Hühnchen, Sushi, gepökeltes Ziegenfleisch. Scheint alles irgendwie zusammengewürfelt. Danach gibt es Hotpot, ein Klassiker. In einem Topf mit heißer Brühe, der in der Mitte des Tisches steht, wird gemeinschaftlich Fleisch und Gemüse gekocht. Während des Essens fließt auch schon ordentlich Alkohol. Bier und Whiskey gibt es en masse. Der Pegel steigt, genau so wie die Lautstärke. Alle paar Minuten wird in verschiedenen Ecken des Raumes angestoßen. „Mot, Hai, Ba, YO!“ (1, 2, 3,  PROST!) 

Nach dem Essen Karaoke

Nach dem Essen werden langsam die Tische leergeräumt und noch schnell die Soundanlage gecheckt. Es ist Zeit für das Hauptprogramm. Zwei Mikros wandern durch den Raum, und es folgt ein Medley aus schnulzigen Duetten, fetzigen Pop-Hymnen und patriotische Evergreens, die an die Heimat erinnern. Die, die sich trauen zu singen, geben alles bei ihrer Performance, ganz egal ob da einige Töne nicht getroffen werden. Der Star des Abends ist nicht das Geburtstagskind, sondern die eine Frau mit der frechen Kurzhaarfrisur. Sie singt nicht nur sehr gut, sondern läuft dabei durch den ganzen Raum und animiert dabei ihr Publikum, indem sie die Leute antanzt oder ihnen das Mikro hinstreckt, damit sie einen Vers vom Song mitsingen. 

Der Dresscode: Frauen tragen Schwarz, Männer Weiß.
Außer dem Geburtstagskind, das trägt Glitzer. Foto: Chi Nguyen

Die Stimmung ist ausgelassen. Diese Gruppe trifft sich seit Ewigkeiten. Viele kennen sich schon seit Jahrzehnten, sind zusammen zur Schule gegangen und haben sogar zusammen Vietnam verlassen, für ein neues Leben in Deutschland. 

Die meisten im Raum sind seit fast 30 Jahren hier. Viele davon sind ehemalige Gastarbeiter*innen. An die vielen urlaublosen Jahre, die sie mehr mit Arbeiten verbrachten als mit ihren Kindern, denkt hier wohl keiner mehr. Sie arbeiten immer noch viel und hart, haben sich aber eine Existenz aufgebaut, die es ihnen erlaubt, komfortabel zu leben. 

Die Mikros werden fürs Erste zur Seite gelegt, denn jetzt wird erstmal getanzt. Für den heutigen Abend wurde sogar eine DJ gebucht. Man möge die Musik als vietnamesischen Techno beschreiben. Männer und Frauen stürzen sich auf die Tanzfläche und versuchen, sich zum schnellen Beat zu bewegen. Ich bin beeindruckt davon, wie die Frauen auf High Heels mit voller Energie zur Musik abgehen, denn die meisten befinden sich ja bereits in ihren Fünfzigern. 

Bei diesen Partys überkommt mich immer ein Gefühl von Gemeinschaft und Familie. Denn Familie steht in der vietnamesischen Kultur an erster Stelle. Familie bedeutet Heimat. Trotz der weiten Entfernung nach Vietnam, liegt sich die Feiergesellschaft hier in den Armen (ich muss erwähnen, dass sie alle schon ordentlich einen im Tee haben). Fernab der deutschen Gesellschaft, an die sie sich anpassen mussten, fanden sie ihren Safe Space. Und obwohl diese Karaoke-Abende nicht mehr so oft stattfinden wie vor zehn Jahren, ist es umso schöner, wenn alle zusammen kommen.

Ich sitze immer noch am Kindertisch. Doch irgendwann werde auch ich auf die Tanzfläche gezerrt. Könnte das mein Aufstieg an den Erwachsenentisch sein?

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Magazin “BE LONGING”, das im Rahmen des Mentorenprintprojekts im Wintersemester 2019/20 unter Leitung von Wolf Kampmann von den Studierenden des Jahrgangs 17 produziert wurde. Das gesamte Heft gibt es als PDF auf der Seite des Studiengangs.