11. January 2021
Fernanda ThomeAbtauchen ins Abstrakte
Wie ein Abend experimenteller Musik mich fühlen ließ wie eine Romanfigur von Clarice Lispector.

(english version below)
Vor einiger Zeit habe ich mich zufällig an einer unerwarteten Kreuzung zwischen zwei Werken wiedergefunden, dem Buch Die Passion nach G.H. von Clarice Lispector, veröffentlicht 1964, und dem Album For organ and brass der avantgardistischen Komponistin Ellen Arkbro, das 2017 erschienen ist.
Ich habe so ziemlich alles von Clarice Lispector gelesen. Vor allem ihre philosophischen Denkanstöße sind nach wie vor Begleiter für mich durch die Geheimnisse der menschlichen Existenz. Es verwundert mich deshalb nicht, dass die Schriftstellerin, die letztes Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, weltweit Kultstatus erlangt hat. Hineingeboren in eine jüdische Familie in der Ukraine und zwei Jahre später gemeinsam mit ihr nach Brasilien ausgewandert, machte Lispector die portugiesische Sprache zu ihrer Heimat und wurde zu einer der größten brasilianischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts.
Die Passion nach G.H., ihr größtes Werk, lag jedoch jahrelang ungelesen auf meinem Nachttisch – von ein paar Leseversuchen abgesehen. Irgendwie war ich lange nicht bereit, vielleicht war es auch der Prolog, der mich eingeschüchtert hatte, dort schreibt die Autorin: “Dieses Buch ist wie so viele andere auch. Aber ich würde mich freuen, wenn es nur von Menschen gelesen würde, deren Seelen bereits geformt sind.” Tatsächlich öffnet das Buch Türen zu einem schwierigen und geheimnisvollen Weg, auf dem man eine völlige individuelle Desorganisation riskiert.
In der Geschichte beginnt die Hausherrin, die nur mit den Initialen G.H. benannt wird, nach der Entlassung eines Dienstmädchens mit der Reinigung des kleinen Dienstzimmers. Die unerwartete Begegnung mit einer Kakerlake erweckt in ihr jedoch eine metaphysische Reise: einer entschlossenen, fast fieberhaften Suche nach dem reinsten Wesen des Seins.
“Ich wurde in Versuchung geführt. Und ich ging auf diesen verheißungsvollem Wahnsinn zu. Aber mein Angst war nicht die Angst desjenigen, der auf den Wahnsinn zugeht, sondern die desjenigen, der auf der Wahrheit zugeht – meine Angst war die, eine Wahrheit zu haben, die ich später nicht mehr wollte, eine erniedrigende Wahrheit, die mich kriechen und auf dem Niveau der Schabe sein ließe”, heißt es in dem Monolog. Die Sprache selbst ist zum Subjekt, zum Weg und zur eigenen Begrenzung geworden. Durch sie entfaltet die Figur, auf der Suche nach Hinweisen einer Urmaterie, ein aufwendiges Werk der Abstraktion, das die Erfahrung der Wahrnehmung und damit die gefundenen Elemente entlang des Weges erweitert. Die Leser*innen werden somit geleitet, durch den unendlichen Raum zwischen den Dingen zu navigieren – seien es Sandkörner oder Musiknoten.
Als ich im Herbst 2018 zur Labelnacht von Subtext Recordings im Klub Säule des Berghain ging, war es erst einen Monat her, dass ich Die Passion nach G.H. fertig gelesen hatte. Wie Spuren eines LSD-Trips hallte das Gelesene immer noch in mir nach. Der Abend war experimenteller Musik gewidmet und lud auch zu einem abstrakten Spaziergang abseits des Weges ein. Doch war ich hauptsächlich wegen der jungen schwedischen Komponistin Ellen Arkbro gekommen, die damals ihr Album For organ and brass gerade veröffentlicht hatte. Arkbro war die erste, die spielte, und der Raum war noch nicht voll, als der donnernde Klang der Orgel Überhand nahm. Es war, als ob eine brutale, aber gleichgültige Sonne sengend und trocken aufging. Nägel, Gelenke, Schrauben: Jede Legierung dieses Industrieraums dehnte sich allmählich aus. In der entschlossenen Verlängerung der Töne blieb der Moment in der Luft hängen – wie Staub.
Nicht vertraut mit dieser rohen Art von Musik, leistete ich zunächst Widerstand. Wie die Hausherrin G.H. von Lispector habe auch ich Angst davor, das zu leben, was ich nicht verstehe. Aber der Donner erwies sich unerbittlich, und noch immer berauscht von G.H.s Mut, gab ich mich in dieser Nacht dem Unbekannten hin. “Mit der Langsamkeit von Steintüren öffnete sich in mir, öffnete sich in mir das weite Leben des Schweigens, dasselbe, das in der stillstehende Sonne seinen Platz hatte, dasselbe, das in der bewegungslosen Schabe war. Und das auch in mir sein würde!”, schreibt die Protagonistin. Und während ich mich also in der Musik verlor, fühlte ich mich wie G.H. in diesem verblüffenden und erweiterten Raum zwischen den Dingen.
Kurioserweise fand ich später heraus, dass das Album tatsächlich ein abstraktes Abtauchen in versteckte Intervalle beinhaltet. Das Titellied wurde für eine Orgel mit einer Art von Stimmung komponiert, die als mitteltönig bezeichnet wird und auf tonale Lösungen durch so genannte reine Intervalle abzielt. Etwas durchaus sehr Lispectorianisches. Nur wenige Instrumente sind für solche Experimente geeignet. Erst als Arkbro die Renaissance-Scherer-Orgel von 1624 in einer Kirche im altmärkischen Tangermünde fand, begann sie mit den Aufnahmen. Was die Komponistin für uns hervorbringt, ist eine sich ausbreitende Harmonie – gnadenlos, trocken und heiß, genau wie die ursprüngliche Wüste, in die G.H. auf ihrer metaphysischen Reise gelangt.
Aber noch spezifischer als in den Intervallen begegnen sich Lispector und Arkbro in ihrer gemeinsamen Hingabe an eine bescheidene, tiefe und genaue Erfahrung der Einfachheit. In der Loslösung von allem, was nicht wesentlich ist, in der maximalen und intuitiven Reduzierung ihrer Ressourcen, nähern sie sich an und stellen die Eleganz und Schönheit einer elementaren Wahrheit wieder her. Durch die Verdichtung und Erweiterung dessen, was sie als Instrument besitzen – die Schriftstellerin die Sprache, die Komponistin den Klang – enthüllen sie die Reinheit und Unermesslichkeit des Jetzt: “Die Zeit bis an die Grenzen gedehnt”, wie es im Buch dargestellt wird. Was in Arkbros ruhiger, harmonischer Modulation zu schwingen wirkt, was sich selbst zu schleppen scheint, ist die von G.H. beschriebene Gegenwart: “… die erhabene Monotonie einer atmenden Ewigkeit”. Für mich bedeutet das Eintauchen in diesen fernen und abstrakten Ort – auch wenn nur für einen Bruchteil der Zeit – die wahre Unendlichkeit des Jetzt zu erfahren.
A Dive into the Abstract
How an evening of experimental music made me feel like a character in a Clarice Lispector novel
Some time ago I found myself at an unexpected crossroads between two works: the book The Passion According to G.H. by Clarice Lispector, published in 1964, and the album For organ and brass by avant-garde composer Ellen Arkbro, which was released in 2017.
I had read almost everything from Lispector’s oevre as a young adult. Her philosophical flows of consciousness had in particular served as a guide through the mysteries of human existence. It is therefore not surprising to me that the writer, who would have turned 100 years old last year, has achieved cult status worldwide. Born into a Jewish family in Ukraine, and having emigrated to Brazil at the age of two, Lispector made the Portuguese language her home, and went on to become one of the greatest Brazilian writers of the 20th century.
The Passion According to G.H., her finest work, had remained unread on my bedside table for years, despite having made several attempts. Perhaps I wasn’t ready yet, or it was the prologue that intimidated me. There the author writes: “This book is like any other book. But I would be happy if it were only read by people whose souls are already formed.” Indeed, the book opens doors to a difficult and mysterious path, in which one risks a total disorganization of self.
In the story, the main character, identified only by the initials G.H., starts cleaning the small service room at her house after the dismissal of a maid. However, an unexpected encounter with a cockroach awakens in her a metaphysical journey: a determined, almost feverish search for the purest essence of being. “I was being seduced. And I was going toward that promising madness. But my fear wasn’t that of someone going toward madness, but toward a truth – my fear was of having a truth that I’d come not to want, an infamizing truth that would make me crawl along and be on the roach’s level”, goes the monologue. In Lispector’s text language itself becomes the subject, the path and its own limitation. Through it the protagonist, in search of clues of a primordial matter, unfolds an elaborate work of abstraction that expands the experience of perception and the elements it perceives along the way. Readers are thereby led to navigate the infinite space between things – be they grains of sand or musical notes.
In the fall of 2018, when I went to the label night of Subtext Recordings at Club Säule in Berghain, it had been only a month since I had finished reading The Passion According to G.H. Like traces of an LSD trip, what I had read still reverberated in me. The evening was dedicated to experimental music, but I had come mainly to hear the young Swedish composer Ellen Arkbro, who had just released her album For organ and brass. Arkbro was the first to play, and the room was not yet full when the thunderous sound of the organ took over. It was as if a brutal but indifferent sun rose, scorching and dry. Nails, joints, screws: every alloy of that industrial space gradually expanded. In the resolute prolongation of the notes, the moment stayed suspended in the air – like dust.
Unfamiliar with this raw kind of music, I resisted at first. Like the book’s character, I too am afraid to live what I don’t understand. But the thunder proved relentless, and still intoxicated by G.H.’s courage, I surrendered that night to the unknown. “Opening in me, with the slowness of stone doors, opening in me was the wide life of silence, the same that was in the fixed sun, the same that was in the immobilized roach. And that could be the same as in me!” describes the protagonist. And so, while losing myself in the music, I felt just like G.H., diving into this baffling and expanded space between things.
Curiously, I later discovered that the album indeed involves an abstract dive into hidden intervals. The title song was composed for an organ with a type of tuning called quarter mean-tone temperament, aiming at tonal solutions through so-called pure intervals. Something thoroughly Lispectorian. Few instruments are suitable for such experimentation. It was not until Arkbro found the Renaissance Scherer organ of 1624 in a church in Tangermünde, northeast Germany, that she began recording. What the composer has achieved and provides us with is an engulfing harmony – merciless, dry and hot, as the ancient desert to which G.H. arrives in her metaphysical journey.
But even more specifically than in the intervals, it is in the spaces in between, in their shared devotion to a humble, deep, and precise experience of simplicity that Lispector and Arkbro meet. In their detachment from all that is not essential, in the maximal and intuitive reduction of their resources, they converge and restore the elegance and beauty of an elemental truth. By condensing and expanding what they possess as instruments – the writer’s language, the composer’s sounds – they reveal the purity and immensity of the now: “time swollen to the limit”, as it is depicted in the book. What seems to resonate in Arkbro’s calm harmonic modulation, what seems to drag itself, is the present described by G.H.: “The loud monotony of an eternity that breaths.” For me, immersing myself in this distant and abstract place – even if only for a fraction of the time – is like experiencing the true infinity of the now.