Eine Geschichte der Unsichtbaren

Seit fast 30 Jahren engagiert sich die Vereinigung der Vietnamesen Berlin & Brandenburg für die Rechte der Vietnames*innen in Deutschland. Damals kämpften sie für das Bleiberecht und heute um Integration. Eine Integrationsgeschichte – geprägt von Unsichtbarkeit und Aufopferung.

Kollegen, Mitbewohner, Freunde: Die ehemaligen Vertragsarbeiter fanden Unterstützung und Rückhalt nur im eigenen Kreis. Foto: privat

Tang Chu Tien, ein ehemaliger Vertragsarbeiter in Ost-Berlin, entschied sich, nach dem Mauerfall in Deutschland zu bleiben. Als die DDR-Betriebe schließen mussten, war unklar, was mit den Vietnames*innen passieren würde. Tang Chu Tien erinnert sich, dass viele seiner Kolleg*innen abgeschoben wurden. Oder ihnen vom deutschen Staat Geld geboten wurde, damit sie wieder zurück nach Vietnam flogen. Trotzdem sei Zurückkehren für viele keine Option gewesen. “Deutschland war eine neue Heimat geworden. In Vietnam wurden wir auch nicht mehr akzeptiert”, erzählt Tang Chu Tien, der heute Leiter der Vereinigung der Vietnamesen in Berlin und Brandenburg (VVBB) ist.

Damals setzte sich die VVBB für das Bleiberecht für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen ein und konnte ab 1993 einen Quasi-Erfolg feiern. Die Vietnames*innen durften zunächst bleiben – unter einer Bedingung: Sie mussten selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen. Erst 1997 erhielten sie die unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung. 

Ein Rückblick: 1979 entschied sich die Bundesregierung nach der ersten Indochina-Flüchtlingskonferenz, bis zu 38.000 vietnamesische Geflüchtete aufzunehmen. Überwiegend Südvietnames*innen kamen als Boat-People oder Kontingentflüchtlinge in die BRD. Kriegswaisen fanden ein neues Zuhause bei deutschen Familien. Ihre Integration wurde durch Deutschkurse und Hilfe bei der Arbeits- und Wohnungssuche gefördert. Es herrschte eine große Willkommenskultur. 

Im Kontrast dazu schlossen die DDR und ihr “Bruderstaat” Nordvietnam 1980 einen Vertrag über die Abordnung von bis zu 60.000 Nordvietnames*innen in die DDR, um dem Arbeitskräftemangel in der Industrie abzuhelfen. Geplant war, dass die Vietnames*innen zwei bis fünf Jahre in der DDR arbeiten und Geld verdienen dürfen. Mit dem Geld sollten sie sich selbst und ihre Familien in der Heimat unterstützen können. In verschiedenen Fabriken arbeiteten sie lange Schichten und gingen danach zurück in ihr Wohnheim, das strikt von der deutschen Bevölkerung abgeschottet wurde. Eine Integration in die deutsche Gesellschaft war nicht gewollt. 

Das erarbeitete Geld erreichte die Familien in der Heimat, wenn überhaupt, nur auf Umwegen. Die Währung aus der DDR konnte nicht umgetauscht werden, weshalb die Vertragsarbeiter*innen gekaufte Waren, wie Fahrräder oder Mopeds, nach Vietnam verschifften. Für den vietnamesischen Staat war der Vertrag mit der DDR außerdem eine Methode, um die Staatskasse aufzubessern. Vom Bruttolohn der Vertragsarbeiter*innen wurden 12 Prozent als “Hilfe zum Wiederaufbau des Landes” abgezogen. Auch die Rentenversicherungsbeiträge und Kindergeld beanspruchte der vietnamesische Staat für sich. 

In der Zeit zwischen Mauerfall und Aufenthaltsgenehmigung waren Vietnames*innen auf sich allein gestellt. Die Selbstständigkeit war für sie die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Ohne Deutschkenntnisse war es fast unmöglich, in deutschen Betrieben einen Job zu bekommen. Sie fingen also an, Blumen oder Textilien zu verkaufen oder eröffneten Asia-Imbisse. Viele gaben sich jedoch als Chines*innen aus, da es in den Neunzigern häufig zu rassistischer Gewalt gegen Vietnames*innen kam. Die Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen gelten als die massivsten rassistisch motivierten Angriffe nach dem Zweiten Weltkrieg. Hunderte Rechtsextreme setzten ein Wohnheim der ehemaligen Vertragsarbeiter*innen mit Molotowcocktails in Brand. 

Zur gleichen Zeit bot das Schwarzmarktgeschäft mit Zigaretten Vietnames*innen einen Weg, schnell viel Geld zu verdienen. Unversteuerte Ware wurde aus Russland oder Polen über die deutsche Grenze geschmuggelt und an Einzelhändler*innen verkauft. Mit einzelnen Stangen stellten sich Verkäufer*innen an Berliner Straßenecken und verkauften sie zu Dumpingpreisen an Raucher*innen. Der Konkurrenzkampf spitzte sich zu, als die Nachfrage stieg und die Geldstapel wuchsen. Es bildeten sich Banden mit mafiaähnlichen Strukturen, die den Verkauf in größerem Maßstab organisierten und die Gebiete unter sich aufteilten. 

Jahrelang führte die Polizei einen Krieg gegen die sogenannte Zigarettenmafia. Schutzgeld, Revierkampf und Mord waren Teil des Berliner Alltags. Zwischen 1992 und 1996 wurden 39 Menschen in Verbindung mit der Zigarettenmafia getötet. 1996 wurden die Anführer der Spitzenbanden festgenommen. Danach war das Zigarettengeschäft so gut wie ausgestorben. Es folgten Massenprozesse gegen die Bandenmitglieder. Einige wurden abgeschoben, andere zu teilweise lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. 

Mehr als 20 Jahre später gelten Vietnames*innen als gut integriert. Sie seien fleißig und unauffällig – Stereotypen der Model Minority eben. Asiat*innen werden nicht nur über einen Kamm geschoren, sondern werden oft zum Vergleich herangezogen, um angebliche Integrationsprobleme anderer Minderheiten hervorzuheben. 

Die Arbeit der Vereinigung der Vietnamesen Berlin und Brandenburg ist heute wichtiger denn je. Der Fokus ihrer Arbeit hat sich aber mit den Jahren verschoben. Ziel ist es, Vietnames*innen dabei zu helfen, sich nicht nur in die Gesellschaft zu integrieren, sondern ihnen auch die Möglichkeit zu geben zu partizipieren. Nach dem langen Aufenthalt in Deutschland sei “die Heimat fremd geworden”, so Tang Chu Tien. Die meisten planen nicht mehr, nach Vietnam zurückzukehren, sondern in Deutschland alt zu werden. 

Für Tang Chu Tien ist die Sprache das Wichtigste für die Integration. Deswegen bietet die VVBB Deutschkurse an und hilft beim Verstehen und Beantworten von Briefen. Selbst mit ausgeprägten Sprachkenntnissen sei die deutsche Bürokratie sehr herausfordernd. Einen besonderen Fokus muss man auf die Gesundheit legen, meint Tang Chu Tien. “Die Vietnamesen haben die letzten Jahrzehnte hart gearbeitet und ihre Körper hohen Belastungen ausgesetzt. Sieben Tage die Woche, zehn bis zwölf Stunden pro Tag.”

Die VVBB veranstaltet regelmäßig Fachvorträge – unter anderem zu Krebsvorsorge oder zu mentaler Gesundheit. Psychische Probleme sind in der Community immer noch mit vielen Stigmata verbunden, weshalb Tang Chu Tien es umso wichtiger findet, darüber aufzuklären. Vietnames*innen wollen sich psychische Krankheiten oft nicht eingestehen, da sie sie mit persönlicher Schwäche gleichsetzen. Die meiste Zeit ihres Lebens verbringen sie damit, sich für Familie und  Arbeit aufzuopfern – da bleibt keine Zeit, sich mit Depressionen oder ähnlichem auseinanderzusetzen.

Die VVBB bietet auch verschiedene Sport- oder Frauenclubs an, um sich zu vernetzen und auszutauschen, denn das Sozialleben kommt oft viel zu kurz. Für die Kinder vietnamesischer Familien bietet die Vereinigung Vietnamesischkurse an. Ebenso wichtig wie die Integration der älteren Generation ist es, der jungen ihre Wurzeln näher zu bringen – vor allem durch Sprache. 

Tang Chu Tien wünscht sich für die Zukunft mehr Einfluss der vietnamesischen Bevölkerung in der Politik. Er möchte, dass Vietnames*innen eine Stimme gegeben wird, damit man sich als vietnamesische*r Bürger*in hier willkommen fühlt. “Wenn die Politik uns wirklich als Bürger hier haben will, dann muss sie uns das ermöglichen”, sagt Tang Chu Tien. Dabei spielen die jungen Menschen eine wichtige Rolle. Er ist der Meinung, dass Vietnames*innen aus ihrer Unsichtbarkeit heraustreten müssen, um ernst genommen zu werden. Still und fleißig zu sein, reiche nicht mehr aus.