Gefiedertes Gedankenspiel

Im Sommer feierte Frank Castorfs Inszenierung von “Die Vögel”  nach Walter Braunfels an der Bayerischen Staatsoper Premiere. Ein Werk, das vor allem durch seine Zeitlosigkeit prahlt.

In Frank Castorfs Inszenierung von Die Vögel wurde die Bühne zu einem bunten Assoziationsspielraum. Foto: Wilfried Hösl

Aus einer kleinen weißen Hütte tritt der König hervor. In seinem blauen Pailettenanzug torkelt er die Treppen eines metallenen Baugerüsts herunter, so als hätte er gerade eine Disko verlassen. Sein Gesicht ist verschmiert mit pink-schwarzem Make-Up, seine aufgeklebten Wimpern tiefblau. Begrüßt wird er unten von zwei Männern in schwarzen Anzügen, Hoffegut und Ratefreund. Sie gehören eigentlich zum Reich der Menschen, gestatten heute aber dem Reich der Vögel einen Besuch. Auch seine Dienerinnen stehen unten bereit: drei Frauen, in imposanten, mit Federn und Pailletten geschmückten Kostümen im 20-er-Jahre-Stil. 

Hundert Jahre ist es her, dass der Komponist Walter Braunfels Die Vögel an der Bayerischen Staatsoper uraufführte. Somit war es eine ganz besondere Ehre für Frank Castorf, dieses Stück an  der Bayerischen Staatsoper unter der musikalischen Leitung von Ingo Metzmacher zu inszenieren. Die Oper basiert auf der antiken Komödie Die Vögel von Aristophanes. 

Die Handlung: Hoffegut und Ratefreund wenden sich von der Welt der Menschen ab und versuchen im Reich der Vögel ihr Glück. Sie überreden die Vögel dazu, sich gegen die Götter aufzulehnen, um ihren eigenen Staat zu gründen. Hoffegut verliebt sich dabei in die Nachtigall, während Ratefreund sich auf den Machtkampf fokussiert.  Um die Vögel vor ihrem Vorhaben zu warnen, tritt Prometheus auf, erzählt von seinem eigenen gescheiterten Versuch sich gegen die Götter aufzulehnen. Doch die Vögel hören nicht auf ihn. 

Braunfels, der das Stück kurz nach dem 1. Weltkrieg fertig schrieb, war überzeugter Katholik. So überrascht es nicht, dass die Vögel am Ende an der Allmacht der Götter scheitern. In Braunfels’ Version sind die Vögel als Metapher für die Menschheit zu lesen, die sich aufgrund ihrer Gier nach Macht in grausame Kriege stürzen, ohne deren Folgen abzusehen. Das Stück wie sein Autor wurden erst in den 1990er Jahren wiederentdeckt. Dem Werk von Walter Braunfels, der unter den Nationalsozialisten seine künstlerische Tätigkeit aufgeben musste, wurde nach dem Krieg wenig Beachtung geschenkt.

Während Braunfels aus der griechischen Version eher eine Tragödie als eine Komödie schuf, orientiert sich Castorf anfangs mehr an dem Urstück von Aristophanes. Die Vögel gleichen einer Bande von hedonistischen Ravern, die Menschheit scheint nicht mehr von dem Streben nach Macht, sondern von der Sehnsucht nach ungehemmtem Vergnügen getrieben. So sehen wir Vögel gemeinsam in Dixie Toiletten verschwinden, mit elastischen Bändern ihre Armmuskeln trainieren und sogar die Nachtigall lässt sich vom Menschen zu einem sexuellen Intermezzo verführen. 

Dabei ist vor allem das Bühnenbild, das Castorf mit Aleksandar Denić (Bühne) und Adriana Braga Peretzki (Kostüm) geschafften hat, meisterhaft. Es erinnert an ein amerikanisches Filmstudio. In jedem Akt dreht und wandelt sich die Bühne aufs Neue. Als Zuschauer:in ist man oft überfordert, wohin man den Blick wenden soll. Die Darsteller:innen werden oftmals von einem Kamerateam verfolgt. So entstehen eindrucksvolle Nahaufnahmen, die auf einem Bildschirm am Rand der Bühne gezeigt werden. Ein roter Frachtschiffcontainer dient einmal als Schauplatz für ein göttliches Ritual, ein andermal pinselt ein Vogel eine weiße Taube auf die Außenseite. Dann dreht sich die Bühne und es ist eine riesige schwarz-weiße Alfred-Hitchcock-Figur aus seinem Kultfilm Die Vögel zu sehen. Am Ende öffnet sich der Himmel hinter der Bühne, als würde Zeus selbst erscheinen.

Es ist ein bunter Assoziationsspielraum, dem man sich einerseits gedanklich annehmen kann, andererseits könnte man ihm auch eine gewisse Beliebigkeit vorwerfen. Denn immer wieder fragt man sich als Zuschauer:in, was das alles zu bedeuten hat. Als die Rebellion der Vögel beginnt, sehen wir, wie Dutzende der bunt geschmückten Vögel auf der Bühne mit Protestbannern mit der Aufschrift “Vögel vereinigt euch” stehen. Ratefreund trägt plötzlich eine Nazibinde um den Arm und spuckt einer Götterstatue wortwörtlich ins Gesicht. Der anfängliche Hedonismus weicht einer eindrucksvollen Rebellion. Dabei bleibt das Streben nach Macht auch in Castorfs Inszenierung zentral, nur die Gestalt der Macht hat sich hundert Jahre später wohl verändert. Denn wer repräsentiert die Macht in einer gottlosen Welt? Ist es der Staat, der die Allmacht an sich reißt? Oder ist es das kapitalistische System? Sind die Vögel Arbeiter:innen, die gegen den Staat rebellieren? Oder gar Querdenker:innen? 

Und auch die Alfred-Hitchcock-Allegorie liefert Material für ein Gedankenspiel. In seinem Film greift ein Schwarm Vögel völlig aus dem Nichts die Menschen an. Dabei kehrt Hitchcock die Rollen um, der Mensch hat plötzlich Angst vor den Vögeln und nicht andersherum. Im Film können die Menschen nicht einmal ihre Häuser verlassen, sie sind gefangen wie im Käfig. Somit lässt Castorf offen, wen oder was die Vögel repräsentieren. Ist es die Umwelt, die sich in Zeiten von Klimawandel an uns rächen wird? Sind die Vögel Coronaviren, vor denen wir uns in unseren Häusern verstecken müssen? Castorf liefert in Die Vögel keine Antworten, er wirft nur Fragen auf. Vielleicht ist diese Beliebigkeit gerade das, womit Castorf die Meisterhaftigkeit des Stücks bewahrt. Dadurch, dass er den Zuschauer:innen überlässt, was sie zu denken und zu fühlen haben in diesem Stück, wird er dem Werk von Aristophanes und Braunfels gerecht. 

Diese Rezension entstand im Seminar zu “Kunst in der journalistischen Kritik” von Kia Vahland im Wintersemester 2020/21. Eine andere Rezension aus dem dem Seminar über die Inzenierung “Die Vögel” wird bald auf Praxis veröffentlicht.