Hinausgewachsen aus Träumen

Der schwedische Regisseur Ronnie Sandahl hat gekonnt und einfühlsam Martin Bengtssons Autobiographie “Freistoß ins Leben” verfilmt. Heraus kam der Film “Tigers”, der ernste Themen mit Sport und einer nahbaren Coming-of-Age-Story vereint.

Tigrar – der schwedische Originaltitel des Films Foto: Klaudia Lagozinski

Wie weit sollte man gehen, um seine Träume zu verwirklichen? Der Schwede Martin Bengtsson (Erik Enge) ist 16 Jahre alt und fest entschlossen. Schon als Dreijähriger träumte er davon, professioneller Fußballspieler für Inter Mailand in Italien zu sein. Der Traum des Teenagers wird Wirklichkeit, doch bevor er sich darüber freuen kann, findet er sich in einer Welt von Druck, Rivalität und Bitterkeit wieder. Langsam aber stetig wird er von dem nun wahr gewordenen Traum zermürbt.

Fußball – man ist Fan oder es interessiert einen nicht. Oder man gehört der großen Gruppe von Menschen an, die sich nur während der Weltmeisterschaft für Fußball interessieren. Dann ist jede*r mit Emotionen dabei, feuert das eigene Team an, ist aufgeregt.

Der Film Tigers des schwedischen Regisseurs Ronnie Sandahl ist ein wenig wie eine Fußball-Weltmeisterschaft: Fußball spielt eine Rolle. Die sportlichen Szenen sind sauber orchestriert und unterhaltsam, gut dargestellt. Sie geben der Geschichte ein Setting. Doch alles, was Drumherum passiert, ist das, was eigentlich bewegt.

Fußball kombiniert mit Love- und Coming-of-Age-Story

Im Zentrum des Films steht ein junger Mann, Martin Bengtsson, der versucht, in die Welt hineinzupassen, dessen Teil er schon immer sein wollte. Oft blickt sich die Figur im Film nur um, alles passiert um ihn herum. Es scheint, als würde so viel so schnell passieren, dass Martin Bengtsson still wird, eher dabei zusieht, was in seinem Leben passiert, als daran teilzunehmen.

In der von Rivalität getriebenen, primär männlich konnotierten Welt des professionellen Fußballs wird er zum Beobachter seines Lebens. Er funktioniert, statt zu leben und zu fühlen. Abgesehen davon, dass der Film auch eine kurze Liebesgeschichte enthält und in der Welt des Profifußballs spielt, hat er außerdem einen Coming-of-Age-Vibe.

Martin Bengtsson bekommt eine Chance, von der jedes Kind nur träumen kann. (Trailerausschnitt/YouTube)

Der Protagonist ringt mit sich, den Seitenhieben der anderen, lernt dann jedoch aus seinen Fehlern, entwickelt sich. Auch, weil er einen Verbündeten findet. Ryan (Alfred Enoch), der schon länger für Inter spielt und dem Protagonisten dabei hilft, die Codes seiner neuen Lebensrealität zu erlernen.

Von der Kunst, Bilder für sich sprechen zu lassen

Abgesehen davon, dass Martin Bengtsson ein herausragendes Fußballtalent ist, schreibt der junge Schwede, der seine Trainingsausrüstung zunächst in einer Plastiktüte der schwedischen Supermarktkette ICA aufbewahrt und damit den Spott seiner Fußballkameraden erntet, seine Gedanken in einem roten Notizbuch auf. Diese Szenen, in denen er sich durchs Schreiben selbst motiviert und reflektiert, wirken. Man sieht, dass er schreibt, im Stillen, doch wird es nicht thematisiert – die Bilder sprechen für sich. Drücken sowohl seine Einsamkeit als auch seinen Kampfgeist aus.

Das Muster, Szenen und Bilder für sich sprechen zu lassen, statt die Handlung zu erklären, sorgen für Spannung und eine fortlaufende Handlung. Auf diese stille Art werden im Film auch die Themen Suizid und Depression angesprochen. Das gibt Zuschauer*innen die Möglichkeit, sich auf Bilder und auf den trotz Schwierigkeiten entschlossenen Protagonisten einzulassen.

Emotionen sind erlaubt

Auch wenn die Verfilmung Martin Bengtsson in den Fokus stellt, sind auch die Charaktere um ihn herum passend und einfühlsam gezeichnet und sorgen dafür, dass die Stimmungen des Films sich auf die Bildschirme übertragen.

Als Bengtsson einen Suizidversuch unternimmt, reist seine Mutter aus Schweden nach Italien, um ihren Sohn in dieser Ausnahmesituation zu unterstützen. Im Krankenhaus sitzen sich die beiden an einem Tisch gegenüber. Statt das Thema Suizid klein zu machen oder zu umgehen, sagt die Mutter ihrem Sohn, dass auch sie schon Momente in ihrem Leben hatte, in denen sie keinen Ausweg mehr sah.

Dieses nahbare Gespräch benötigt weder Lautstärke noch starke Worte, um für Gänsehaut zu sorgen. Unter der Oberfläche wird durch Verständnis und Anerkennung von Emotionen eine Verbindung zwischen Sohn und Mutter hergestellt.

Doch ist Tigers definitiv kein trauriger Film. Szenen mit Witz werden gekonnt ins Gesamtbild eingeflickt. Wie zu Anfang des Films, als die Mutter ihren Sohn fragt, ob er sich selbst beim FIFA zocken spielt. Ehrlichkeit, Nahbarkeit und Aufrichtigkeit sind es, die diesen Film besonders machen, ohne dass dem*der Zuschauer*in etwas aufgedrückt wird.

Sandahls zweiter Film in der Welt des Profisports

Auch ist zu erwähnen, dass die allgemeine Komposition der Szenen und das Zusammenspiel von Musik und Bildern den Film noch besser machen. Aus dem Taxi, das Bengtsson ins Trainingscamp in Italien bringt, strömen italienische Klassiker, die schwedische Synthpop-Band Kite liefert mit “Johnny Boy“ einen motivierenden Titelsong.

Bevor Ronnie Sandahl für Tigers Regie führte, verfilmte er schon mit Borg/McEnroe einen Film, der auf einer wahren Geschichte basiert und sich im Setting des professionellen Sports – in dem Fall Tennis – abspielt. Auch dort schaffte es der Regisseur, intensive Emotionen und zwischenmenschliche Beziehungen in eine nahbare und rührende Filmsprache zu übersetzen.

Dem Regisseur ist es gelungen, viele unterschiedliche Aspekte geschickt in einem Film zusammenzufügen, ohne dass er überladen wirkt oder den roten Faden verliert. Tigers kann aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden, weswegen man sich diesen Film getrost mehr als ein Mal ansehen kann.

SWE/IT/DK, 116 min, 2020, R: Ronnie Sandahl, D: Erik Enge, Alfred Enoch, Frida Gustavsson

Tigers feierte in Deutschland am 8. November 2020 auf den Nordic Film Days Lübeck und in Schweden am 30. Januar 2021 auf dem Göteborg Film Festival Premiere. Hier wurde der Film in der Kategorie Best Nordic Film 2021 am 7. Februar 2021 mit dem Dragon Award gekürt.