Druck und Rausch

Die Erzählung der Christiane F. wird neu aufgelegt. Die Serienadaption von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ überrascht mit erzählerischer Freiheit und manipulativer Bildgewalt.

Eine junge Frau mit braunen Haaren schaut nachdenklich in die Ferne
Schauspielerin Jana McKinnon spielt Christiane F. Foto: Constantin Television / Mike Kraus

In Christianes Zimmer hängen Pferdeposter. Später, das betont die 13-Jährige immer wieder, wird sie Springreiterin. Und auf jeden Fall nicht wie ihre Eltern. Eine Teenagerin, die sich gegen die Lebensentwürfe ihrer Eltern auflehnt – total normal. Christianes Zuhause in der Gropiusstadt-Wohnung ist bestimmt von Geldnot und einem gewalttätigen Vater. Also flieht die Heranwachsende aus dem Plattenbau(alb)traum in das glitzernde Berliner Nachtleben der 70er-Jahre. Christiane sucht Emanzipation und Anschluss. Sie findet Freunde und Heroin.

43 Jahre nach der Veröffentlichung von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo interpretiert eine Serienadaption in acht Teilen die Jugendjahre der Christiane F. neu. Sie folgt sechs Jugendlichen, die kompromisslos für Freiheit kämpfen und dadurch alle Probleme mit Eltern, Lehrern und anderen Spießern hinter sich lassen wollen. Besetzt sind Christiane und ihre fünf Freunde vorwiegend mit unbekannten Schauspieler*innen. Christiane (Jana McKinnon), Stella (Lena Urzendowsky), Babsi (Lea Drinda), Benno (Michelangelo Fortuzzi), Axel (Jeremias Meyer) und Michi (Bruno Alexander) unterscheiden sich durch ihre Biografien und Wünsche, finden aber gemeinsam vielversprechende Erlösung im Rausch. Die Neuinterpretation fokussiert Christianes Weg in die berauschenden Nächte Berlins. Drehbuchautorin Annette Hess (Ku’damm 56/59) und Regisseur Philipp Kadelbach (Parfum) dokumentieren jedoch die individuellen Entwicklungen aller sechs Freunde aufmerksam und sensibel. Immer wieder verharrt die Kamera nah an ihren Gesichtern und lässt so Emotionen und Entwicklungen Zeit. Das ist oft langatmig und dann doch faszinierend.

Ein echtes David-Bowie-Konzert, wie in der Erstverfilmung von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo aus dem Jahr 1981, ist zwar nicht dabei, dafür zeigen die Macher*innen, was dank technischem Fortschritt heute alles möglich ist. Zum Beispiel, wenn Christiane Benno zum Rauchen mit auf das Plattenbaudach nimmt. Unter ihnen 20 Stockwerke sozialer Brennpunkt, im Hintergrund Berliner Stadtkulisse, inklusive Fernsehturm in der Ferne. Unten in der Wohnung hat Christianes Mutter das junge Verliebtsein mit peinlichen Fragen gestört. Hier oben auf dem Kies des ringförmigen Hochhauses sind die beiden alleine und selig. So abgeschieden in ihrem Glück, dass der graue Berliner Himmel plötzlich rosarot leuchtet und statt trister Stadt-Skyline die Alpen in der untergehenden Sonne glitzern. Und wenn sich die Clique zum ersten Mal zusammen im Beat des legendären Clubs S.O.U.N.D. verliert, schweben ihre Körper wie durch Wasser über der Tanzfläche. Hier, in der damals modernsten Diskothek Europas, sind sie frei.

Die Kinder vom Bahnhof Zoo Foto: Constantin Television / Mike Kraus

Bildgewaltig spiegelt die visuelle Umgebung immer wieder das Innenleben der Jugendlichen, das gesellschaftliche Gefüge der Clique wird feinfühlig analysiert und durch technische Tricks effektvoll illustriert. Das Spiel mit der Manipulation feiert sich auch in den zahlreichen Heroin-Trips: Wände verschieben sich, Anziehungskraft wird aufgelöst, Perspektiven werden verzerrt und Dinge tauchen auf, die allgemeiner Logik widersprechen. Die bildlichen Fiktionalisierungen stülpen das Innenleben nach Außen und machen es greifbar. Man wird verschluckt von dieser Welt voller neuer Perspektiven. Von diesen Verdrehungen verschlungen zu werden, macht Spaß, es schmeckt frisch und bunt – trotz der alten Erzählung. Genauso körperlich vereinnahmend sind die visuellen und auditiven Störungen, die quietschend unter die Haut kriechen, wenn der Druck steigt, den nächsten Heroinschuss zu organisieren. 

Auch die sich wiederholenden Entzugsversuche der Christiane F. sind voller Verzweiflung und Schmerz. Und immer wieder zieht die Sucht Christiane und ihre Freund*innen auf den Kinderstrich am Bahnhof Zoo, der der biografischen Erzählung ihren Namen gab. Das ist schrecklich, lebensgefährlich und wird von den Serienmacher*innen auch visualisiert. Aber der Erzählfokus der neuen Serien liegt eindeutig auf den hedonistischen Nächten des Berliner Nachtlebens. Während bei den Entzugsszenen schnell die Geschwindigkeit hochgedreht wird, baden die Jugendlichen in ikonischen Slowmotion-Aufnahmen während ihres Rauschs. Schmerz und Verzweiflung müssen also meistens nicht lang ausgehalten werden, die Freiheiten der Diskoszene werden dafür umso intensiver gefeiert. 

Was bedeutet die Veröffentlichung einer solchen Serie in einer Zeit, die von geschlossenen Freiräumen und sozialer Isolation bestimmt ist? Zuerst wird hier Sehnsucht gezogen. Der Hunger nach purem Vergnügen und ausgelassener Gemeinschaft wird gefüttert, sodass der Serienkonsum selbst zur Ersatzdroge wird. Dann werden die Zuschauer*innen fallen gelassen – hinein in die körperlichen und psychischen Konsequenzen des Heroins. Nur um kurze Zeit später den Schrecken im detailverliebten Soundtrack der niemals schlafenden Stadt wieder zu vergessen. Orte, die wir verloren haben, werden magisch pulsierend in Erinnerung gerufen. In einer Welt, in der zu viel Nähe gemieden werden muss, ist die Heroin-Sucht eine grausame Analogie.

Bei all der Rauschhuldigung bekommen Emotionen und Persönlichkeitswandlungen viel Raum und Spiel in der Produktion. Die Neuauflage von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo öffnet Welten und kennt ihre Stärken. Aber: “Einzelne Personen sowie Ereignisse in ihrem Freundeskreis und familiären Umfeld sind fiktionalisiert oder frei erfunden“, heißt es zu Beginn jeder Folge. Dabei sind die Erlebnisse von Christiane und ihrer Clique doch so eindrucksvoll, weil sie den real existierenden Teufelskreis aus Abhängigkeit und Geldmangel schildert. Die Produktion von Oliver Berben und Sophie von Uslar nutzt die Fiktionalisierung des biografischen Materials, um Zuschauende noch effektiver zu zermürben. Unsicher ist, ob der bildgewaltige Coming-Of-Age-Epos genau richtig für den verlängerten Lockdown ist oder das Schlimmste ist, was man sich zurzeit antun kann.

Die Serienadaption Wir Kinder vom Bahnhof Zoo von Constantin Television und Amazon Studios startet am 19. Februar auf Amazon Prime Video.