Vergessene Stimmen

Kontakte meiden, zu Hause bleiben, das ist die Ansage diesen Winter. Das ist vor allem für Menschen auf der Straße hart. In einem Hörspaziergang kommt unsere Autorin dem Alltag von Berliner Obdachlosen trotz Corona nahe.

Vor dem Bahnhofsgebäude am Zoologischen Garten in Berlin ragen Hochhäuser in den Himmel, die Fassaden sind geschwärzt vom Straßenverkehr. Am Bahnhofseingang fahren ständig Busse vorbei, neben dem Gezwitscher der Vögel hört man das Rauschen der vorbeifahrenden Autos. Außer dem Lärm schlägt einem an diesem Dezembernachmittag ein eiskalter Wind ins Gesicht. Hektisch laufen Passant:innen vorbei, mit Takeaway-Boxen, Einkaufstüten und vollbepackten Rucksäcken. 

Unter der Bahnhofsbrücke ist der Straßenlärm noch deutlicher zu vernehmen. Am Rand stehen ein paar Stühle und Paletten herum, auf denen ein Schlafsack liegt. Eine ältere Dame ist gerade dabei, einen Beutel mit Obst abzustellen. Mandarinen, Äpfel und Trauben hat sie mitgebracht. Für die meisten ist die Brücke ein Ort des Transits, man nimmt den Bus, man läuft Richtung Ernst-Reuter-Platz, man geht in eine Ausstellung im C/O. Doch für viele Obdachlose ist die Brücke Wohnzimmer und Schlafplatz.

Jenny

So auch für Jenny. Die 30-Jährige lebt seit 13 Jahren auf der Straße. Ein Nachname wird nicht genannt. Mit Jennys Geschichte beginnt der Audiowalk “Stimmen vom Bahnhof Zoo”. Das zweistündige Hörspiel des Berliner Vereins Querstadtein führt einen durch das Berliner Viertel Charlottenburg und gibt Einblick in das Alltagsleben von Obdachlosen. Stimmen, die in der Pandemie oft verloren gehen.

In Hotels können Obdachlose oftmals die Toilette benutzen. Foto: Sabina Zollner

“Du musst stark sein auf der Straße. Wenn du nicht stark bist, dann hast du ein Problem”, sagt Jenny.  Ihre Stimme klingt rau, während sie erzählt, wie sie mit achtzehn von zu Hause floh, weil ihre Mutter drogenabhängig und gewalttätig war. Seit ihrem achten Lebensjahr trinkt Jenny Alkohol, seit sie elf ist, nimmt sie Drogen. Mittlerweile ist sie clean, trinkt “nur” noch Alkohol. Der Bahnhof Zoo war der erste Ort, an dem sie Obdach fand. Jahrelang lebte sie unter der Brücke am Bahnhof. Tagsüber saß sie im Eingang und fragte Passant:innen nach Kleingeld. 

“Leute anbetteln, das ist kacke, das fühlt sich nicht gut an”, erzählt sie. Viele Passant:innen sind freundlich, andere weniger. So kommen immer wieder Männer zu ihr und fragen sie, ob sie für hundert oder zweihundert Euro ihren Körper verkaufen will. Es ist die Ungewissheit, die das Leben auf der Straße für sie unerträglich macht. Der Bahnhof Zoo ist ein sozialer Brennpunkt – Zufluchtsort für viele, die in der Stadt nicht klarkommen. Vor allem nach der Wende strandeten hier viele mit Träumen vom guten Leben im Westen. 

Geht man durch das Bahnhofsgebäude hindurch, findet man sich in einem Strudel von Menschen wieder. Vorbei an einem asiatischen Imbiss, einer Bäckerei und einem Blumenladen, überkommt einen ein Geruchssammelsurium aus gebratenen Nudeln, frisch gebackenen Brötchen und Adventskranznadeln. Auf der anderen Seite des Bahnhofsgebäude ist es überraschend still. Hier ist fast niemand zu sehen. Nur ein älterer Mann, eingewickelt in Winterjacke und Plastikplane, auf einem grünen Rollkoffer sitzend. Das Gesicht verzehrt von der Kälte, die Hände eingewickelt in einen Schal.

Anton

Läuft man weiter nach links an den Bahngleisen entlang, vorbei an einem Supermarktlager, passiert man eine jüdische Gemeinde und landet dann auf dem Kurfürstendamm. Neben herrschaftlichen Häusern geht man an bunt leuchtenden Schaufenstern vorbei. Am Apple Store ist eine lange Schlange. Eine neue Stimme ist über die Kopfhörer zu hören: Der 32-Jährige Anton, er klingt frisch und voller Energie. Seit sechs Monaten ist er obdachlos in Berlin. Der Kurfürstendamm ist für Anton von Erinnerungen geprägt. Vor drei Jahren kaufte er hier regelmäßig Kosmetikartikel und Damenkleidung ein. Bevor Anton obdachlos wurde, arbeitete er als Transvestit. Seine Kunden fand er auf Partys, manchmal begleitete er sie nur, gelegentlich kam es zu sexuellen Dienstleistungen. “Ich mochte diese weibliche Seite an mir, und ich wollte Abenteuer.” Doch irgendwann wurde ihm sein Job zu gefährlich. “Einige bezahlen, andere nicht, und es kam schnell zu Körperverletzungen”, sagt Anton mit seinem starken bulgarischen Akzent.

Erhard

Vor einem luxuriösen Kosmetikladen steht ein einsamer Heizpilz neben einem Stehtisch. Ein süß-würziger Glühweingeruch hängt in der Luft. Ein junger Mann bietet Passant:innen Probecremes an. Eine Ecke weiter ist eine neue Stimme zu hören: “Ku’damm, das ist meine Heimat”, berlinert ein Mann namens Erhard mit einer tiefen Stimme. Der 70-Jährige lebte in den 1980ern in einer Seitenstraße des Ku’damms. 1-Zimmer-Wohnung, Küche, Bad, für 80 Mark. Heute ist hier eine Filiale von Zara Home und ein mexikanisches Restaurant. Davor wird in einem Schaufenster eine 63 Quadratmeter-Wohnung für 456.000 Euro zum Verkauf angeboten. 

Auch Erhard war jahrelang obdachlos. Der 70-Jährige versuchte ein neues Leben in Thailand aufzubauen, doch seine Frau erkrankte an Krebs und Erhard verlor sein ganzes Geld. “Ich setze mich immer dahin, dass ich niemand störe. Wenn die Leute was geben möchten, dann machen sie das.” Erhards Stammplatz ist neben einem Lampenpfosten am Ku’damm auf dem Asphalt. Heute ist hier nur ein Bauzaun und ein E-Scooter zu sehen. “Ich mag es nicht, wenn die Leute was gegessen haben und mir dann ihre Reste geben. Einem Hund kann man das geben, aber ich esse das nicht”, erzählt er empört. 

Der Hörspaziergang führt auch durch Berliner Hinterhöfe. Foto: Sabina Zollner

Biegt man vom Ku’damm in die Uhlandstraße ein, sind prächtige Gründerzeithäuser zu sehen. “In Studentenzeiten haben wir hier in Kommunen gewohnt. Jetzt haben sich Galerien eingenistet”, sagt Erhard. Neben dem Uhland, einem gelben Altbau mit römischen Säulen und Stückbalkonen, führt ein kleiner Eingang in die Uhland-Fasanenpassage. Der Weg führt in einen schicken Hinterhof, am Rand steht ein kleines Müllhäuschen. Hier ist Erhards Schlafplatz. Morgens steht er dort um sieben auf, bevor er zu einer nahegelegenen Baustelle zum Waschen geht. Im Hotel California auf dem Ku’damm darf er auch tagsüber auf die Toilette. Heute ist das Hotel geschlossen. In der Drehtür stehen zwei leuchtend rote Weihnachtsbäume. In Zeiten von Corona sind die Türen der Stadt zu.

Anmerkung: Die Zitate des Artikels sind dem Audiowalk “Stimmen vom Bahnhof Zoo” des Berliner Vereins Querstadtein entnommen.