06. March 2021
Franziska HerrmannUnd dann kam Bowie
Eine hochgradig unvollständige Zeitreise durch Songs über Berlin mit Paul Lincke, Marlene Dietrich, Hildegard Knef, Rio Reiser, Nina Hagen, Iggy Pop und natürlich: David Bowie.

Ihr roher Charme, ihr Chaos und ihre Ungezwungenheit sind unvergleichlich. Ihr lässiger Chic und ihre schicke Lässigkeit ziehen die unterschiedlichsten Menschen an. Berlin. Die Entspanntheit, mit der hier Lebenswelten nebeneinanderstehen, ist “metropolesque”! Vielen Musiker:innen ist die Stadt kreative Tankstelle. Manchen wird sie zur Heimat. Manchen bleibt sie Episode. Wenn hier ein Song entsteht, dann spielt die Stadt selbst oftmals die Hauptrolle. Dieser Text ist eine unvollkommene Annäherung an Texter:innen und Interpret:innen, die sich von Berlin inspirieren ließen.
Am Anfang steht das Volkslied
Der Song Untern Linden karikiert einen Spaziergang auf der Berliner Prachtstraße in Mitte: “Untern Linden promenier’ ich. Immer gern’ vorbei. Ach, ist die Passage schwierig. Und die Schubserei. Auf ’ne Kilometerläng. Siehste nichts als Menschenmenge. Und inmitten. Hält beritten Stolz die Polizei.” Walter Kollo schrieb ihn 1912 für das Musikdrama Filmzauber. Er galt zusammen mit Paul Lincke als einer der wichtigsten Komponisten dieser Zeit und als Urvater der Operette. Später sang auch Marlene Dietrich über das turbulente Treiben “Unter den Linden”.
Auf der Drehorgel in den Hinterhöfen gespielt, wurde der Flirtversuch Denkste denn, du Berliner Pflanze auf den Petersburger Marsch gesungen. Mit “Berliner Pflanze” ist ein aus Berlin stammendes Mädchen gemeint, das in dem fesch gesungenen Lied umworben wird. Gemeinsam mit Bolle reiste jüngst zu Pfingsten wurde es zum Gassenhauer und der musikalisch schmissige Pfingstausflug Bolles nach Pankow erfreut noch heute so manche gesellige Feierlichkeit.
Revue Revue Revue
Zunächst erschien das berühmte Lied Berliner Luft in der gleichnamigen Revue, bevor es 1922 in die Operette Frau Luna aufgenommen wurde. Die Bedeutung des Komponisten Paul Lincke bereits zu Lebzeiten für Berlin ist mit der von Strauß für Wien und Offenbach für Paris zu vergleichen. Das lag auch an der Unterstützung des NS-Regimes, das den Komponisten mit zahlreichen Auszeichnungen ehrte. Zum Beispiel zählte Lincke zum Ehrenvorstand des Neuen Deutschen Film und Bühnenclub. Doch er war nie Mitglied der NSDAP und arbeitete häufig mit jüdischen Textdichtern und Komponisten zusammen, darunter auch Benno Jacobsen, von dem die Textzeilen zur Berliner Luft kommen.
Glamourös, aber bitte mit Chuzpe: Waldoff, Dietrich und die Knef
Mit dem Lied von der Krummen Lanke machte sich Freddy Sieg 1923 einen Namen. Der gelernte technische Zeichner zog zunächst als Komiker durchs Land, textete mehr als hundert Lieder und trug sie selbst vor. Doch gefragter waren weibliche Interpretinnen. Besonders Schauspielerinnen verkörperten mit Chuzpe die notwendige Direktheit der Lieder. Eine der bekanntesten Sängerinnen ihrer Zeit war Claire Waldoff. Sie kam nicht gebürtig aus Berlin, sondern wurde 1884 in Gelsenkirchen geboren, und doch waren ihre mit Berliner-Schnauze dargebotenen Lieder ihre erfolgreichsten. Mit einem breiten Repertoire trat sie auf Kleinkunst-Bühnen mit kecken Nummern wie Nach meene Beene is ja janz Berlin verrückt auf.
Die kühle blonde Marlene Dietrich hingegen wurde zwar in Berlin-Schöneberg geboren, zog jedoch, nachdem sie 1930 mit dem Film Der blaue Engel ihren großen Durchbruch hatte, nach Amerika, um ein internationaler Filmstar zu werden. Auf ihrer Europatournee dreißig Jahre später im wiedereröffneten Titania-Palast sang sie das melancholische Ich hab noch einen Koffer in Berlin. Mit der Darbietung des von Ralph Maria Siegel geschriebenen Chansons, schenkte sie zumindest einen wehmütigen Blick zurück in die alte Heimat Berlin. Doch sie erntete nicht nur Bewunderung für diesen Auftritt. Es gab auch Buhrufe und Eierwürfe, denn einigen galt sie als Verräterin.
Auch Dietrichs jüngere Kollegin und Freundin Hildegard Knef ist als Sängerin des Liedes bekannt. Die unterschiedliche Nähe der glamourösen Damen zu Berlin ist auch in der Interpretation hörbar. Während Dietrichs Version das distanziert differenzierte Beschreiben pflegt und die Stimme einer Beobachterin verkörpert, singt “die Knef”, die in Ulm geboren wurde, verliebt über ihre Wahlheimat Berlin. Auch mit Liedern wie Berlin, dein Gesicht hat Sommersprossen oder Ich hab’ so Heimweh nach dem Kurfürstendamm umschmeichelte sie mit feminin tief rauchiger Stimme die Berliner:innen und ihre Stadt.
Frech und international
In den sechziger Jahren tauchte eine sehr junge Dame im Scheinwerferlicht auf: Cornelia Froboess war erst acht Jahre alt, als sie mit Pack die Badehose ein 1951 zum Kinderstar wurde. Das Lied hatte ihr Vater ursprünglich für die Berliner Sängerknaben geschrieben, doch diese lehnten es ab. Aus der frech singenden Conny wurde später eine renommierte Theaterschauspielerin.
International wurde Berlin nun zunehmend und hörbar geschätzt. So schrieb Edith Piaf, der “Spatz von Paris”, eines ihrer letzten Lieder über L’homme de Berlin, also einen Mann aus Berlin. Es handelt von einer Frau, die als Fremde nach Berlin kommt. Sie singt darin: “Quand on n’attend plus rien. Quand on veut tout changer. Berlin vaut bien Berlin – Wenn man nichts mehr erwartet. Wenn man alles ändern will. Berlin ist gut, Berlin.” Doch die Piaf war nie in Berlin. Vermutlich wollte sie das Chanson auf der geplanten Deutschlandtournee singen, doch sie war schon zu krank. Die Tournee fand nicht mehr statt.
Die Zeit der Freigeister
Mit Keine Macht für Niemand brachte die Band Ton Steine Scherben in den siebziger Jahren ihr zweites Studioalbum raus. Besonders der Rauch-Haus–Song sprengte atmosphärisch und inhaltlich Grenzen: Gerade war Georg von Rauch nach der Besetzung des Hauses bei einem Schusswechsel mit der Polizei erschossen worden. Mit der Zeile “Das ist unser Haus, schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus” wurde die Gentrifizierung personifiziert. Denn mit Schmidt war der Immobilienmakler Günter Schmidt gemeint und Mosch spielte auf Heinz Mosch an, den größten privaten Bauunternehmer der Bundesrepublik in den frühen Siebzigern.
Mit Berlin Berlin Berlin Berlin schrieb Wolf Biermann eines seiner vielen Lieder mit Berlin-Bezug. Der Liedermacher siedelte 1953 in die DDR über und veröffentlichte 1960 erste Lieder und Gedichte. Bald wandelte er sich zu einem scharfen Kritiker der SED und der DDR und fünf Jahre später wurde ein Auftritts- und Publikumsverbot gegen ihn verhängt.
Bowie, Pop und Neue Deutsche Welle
Und dann kam David Bowie nach Berlin-Schöneberg, wo er sich eine Altbauwohnung mit Iggy Pop teilte. Nach einer exzessiven Phase in Los Angeles, körperlich erschöpft und künstlerisch ausgebrannt, suchte Bowie Ruhe und war fasziniert von der Zeit der Weimarer Republik und ihren Künstler:innen, bewunderte Brecht und die Künstlergruppe Brücke. Allzu ruhig wurde die Phase jedoch nicht. Er trieb sich in Bars und Restaurants rum und schuf Ende 1976 mit seinen drei Alben Heroes, Low und Lodger die Berlin Trilogie. In Zusammenarbeit mit Tony Visconti und Brian Eno entstand sein berühmtestes Stück: Heroes. Die Hauptrolle spielt darin die Berliner Mauer.
Parallel zu Bowies Aufnahmen im Studio by the Wall arbeitete Iggy Pop an seinem Album Lust for Life. Der darin enthaltene Song The Passenger wurde zur Hymne moderner Nomaden. Laut Mythos wurden die Textzeilen bei einer Fahrt mit der Berliner S-Bahn geschrieben und basieren auf einem Gedicht von Jim Morrison.
Inzwischen hatte Rio Reiser, der Sänger von Ton Steine Scherben, mit seinem Lied Sonnenallee eine Solokarriere gestartet, produziert von Annette Humpe, der Sängerin von Ideal, der Neuen-Deutschen-Welle-Band überhaupt. Anfang der achtziger Jahre war das Musikgenre auf dem Höhepunkt und galt als deutschsprachige Variante von Punk und New Wave. Verrückt und roh sang auch NDW-Vorreiterin und Star Nina Hagen in Berlin ist dufte. Für die Band Ideal ließ sich das Lebensgefühl in Berlin so beschreiben: “Ich fühl mich gut. Ich steh auf Berlin.”
Das Manhattan-Feeling in Berlin
Mit ähnlichem Sound erzählt das Musical Linie 1 die Geschichte eines junges Mädchens, das vom Land nach Berlin kommt und auf der Suche nach ihrem Traumprinzen, einem Rockmusiker, in der U-Bahn-Linie 1 hängen bleibt. Auf ihrer Odyssee durchquert sie die unterschiedlichsten Bezirke. In Nummern wie 6 Uhr 14 Bahnhof Zoo oder Wilmersdorfer Witwen werden die unterschiedlichen Menschen und Milieus klar gezeichnet.
Die neunziger und zweitausender Jahre brachten noch sehr viele schöne Lieder mit Berlin-Bezug hervor, doch ich möchte mit Leonhard Cohens schallend schöner Synthie-Pop-Variante First we take Manhattan (then we take Berlin) enden. Denn sie ist mehr als nur ein weiteres Lied mit Berlin-Bezug. Über den mysteriösen Song sagte Cohen 1988 in einem Interview: “It is a terrorist song. I think it’s a response to terrorism.” Dann präzisiert er und spricht von den “Terroristen” Jesus, Freud, Marx, Einstein, die die Welt zum Beben und Erzittern gebracht hätten. Natürlich ist der Song nicht zufällig in Berlin verortet. Es gibt wohl keine Stadt, die anziehender auf Visionäre und Kreative wirkt und klarer für Umbruch und Neubeginn steht als Berlin.
Der Beitrag entstand im Rahmen des von Prof. Annett Gröschner im Wintersemester 2020/2021 angebotenen Seminars “100 Jahre Groß-Berlin– Metropolenansichten in Kunst, Kultur, Literatur u.a.”