Wie ein Wintertag in Berlin

Berlin – eine Stadt der Gegensätze und Gemeinsamkeiten. Straßen voller Müll und Schätze. Ein Ort, der ständig im Wandel ist, niemals stillsteht – im Kern trotzdem immer ungeschönt roh bleibt. In den Reinbeckhallen in Berlin Oberschöneweide hängen noch bis Ende Mai über 200 Fotografien von 23 Künstler*innen, die die deutsche Hauptstadt zwischen 1945 und 2000 zeigen. Jahrzehnte geprägt vom Wiederaufbau nach dem zweiten Krieg und der Wiedervereinigung nach dem Mauerfall.

Candice Hamelin, die Kuratorin, baute einen fotografischen Zeitstrahl, der in drei Etappen zu durchstreifen ist. Die Ausstellung ähnelt einem kalten Wintertag in Berlin. An den hohen weißen Wänden hängen fast nur Schwarz-Weiß-Fotos. Die Beleuchtung ist hell und kühl, wie Sonnenlicht, das, wie oft in Berlin, durch eine Wolkendecke lugt. Alle Künstler*innen zeichnen durch ihre Arbeiten ein individuelles Bild von Berlin. Sei es durch Dokumentar-, Straßen-, Architektur-, Konzept-, Porträt- oder Experimentalfotografie. Berlins Vielfalt spiegelt sich in den verschiedenen Arten der Fotografie und in den ausgewählten Künstler*innen wider. Es fällt auf, dass der Fokus immer wieder auf die Menschen der Stadt – die Berliner*innen, gerückt wird. Denn was wäre diese Großstadt ohne ihre Bewohner*innen? Kahl, wie die weißen Wände der Reinbeckhallen. 

Intuitiv beginnt man den Rundgang mit dem Abschnitt 1945–1960. Man begegnet zuerst Menschen in einer zerbombten Stadt, umgeben von Trümmern, die Herbert Hensky unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fotografierte. Hensky setzte die Stadtruinen als Stilmittel ein, indem er zum Beispiel entlang der Spree mit Hilfe der Spiegelungen der zerstörten Häuser im Wasser seine Fotografien komponierte. Seine Werke zeigen den Alltag der Menschen in einer Stadt, die Schritt für Schritt die Spuren des Krieges wegräumte und einen Neustart wagte. 

Zwei junge Angler an der Spree in Berlin-Mitte, 1947
Foto: bpk / Herbert Hensky

Auch Arno Fischer behandelt in seiner Serie Situation Berlin (1953–1960) das Leben in der Nachkriegszeit. Zu seinen Motiven gehören verschiedene Kulissen, wie ausgebombte Gebäude, leer stehende Grundstücke oder Bauprojekte der Nachkriegszeit. Dazu sind stets beobachtende oder wartende Berliner*innen zu sehen, die so aussehen als würden sie darauf warten, dass sich die Häuser von allein wieder aufbauen. 

Der zweite Abschnitt von 1961–1988 beinhaltet unter anderem Arbeiten von Max Jacoby. Der deutsch-jüdische Fotograf lebte für kurze Zeit in Berlin, bevor er mit seiner Familie vor dem Krieg noch nach Buenos Aires auswandern konnte. 1957 kehrte er nach Berlin zurück und fotografierte aus verschiedenen Perspektiven die Bleibtreustraße, eine Straße in der Umgebung, in der er vor dem Krieg wohnte. Auch Jacoby fotografierte Berliner Alltagssituationen, mit dem Unterschied, dass er seine Aufmerksamkeit auf Fassaden, Kreuzungen, Bürgersteige und ihren rissigen Asphalt legte. Die Menschen auf Jacobys Fotografien huschen vorbei wie die anonymen Begegnungen, die man auch heute in Berlin häufig hat und hinterlassen nur eine Spur, weil sie gerade zufällig durch sein gerichtetes Kameraobjektiv laufen. 

Weitere Werke aus dem zweiten Abschnitt stammen von Anno Wilms. Die Berliner Fotografin fing Ende der 1950er Jahre an, verschiedene Gebäude und Wohnprojekte im Osten sowie im Westen zu fotografieren. Wilms’ kontrastreiche Fotografien dokumentieren die Ambivalenz der Berliner Architektur während der Nachkriegszeit. Die Abbildung des veralteten, heruntergekommenen S-Bahnhofs Charlottenburg hängt neben der Aufnahme einer futuristischen Treppenkonstruktion vom ICC. Es wirkt als wollte Wilms mithilfe eines starren schwarz-weiß Kontrasts in ihren Bildern die allgegenwärtige “alt-trifft-auf-neu-Atmosphäre” aufgreifen und diese Gegensätze nicht nur in den Motiven, sondern auch in der fotografischen Umsetzung darstellen. 

Maria Sewcz und Miron Zownir begeben sich wieder unter Menschen. Während Sewcz eher wie  eine Außenstehende ihre Kamera auf das Leben anderer richtet, ist Zownir ein Teil der Menge. Maria Sewczs Fotoserie inter esse (1985–1987) entstand im Rahmen ihrer Diplomarbeit an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig und zeigt Details Ostberliner Straßen und Innenräumen. Menschen sind nur verschwommen oder verdeckt zu sehen. Sewcz sagte, dass inter esse ihre eigene Unfähigkeit, Berlin als Ganzes zu sehen, darstelle. Die Serie zeigt Schnipsel der Stadt, die nicht recht zuzuordnen sind und nicht richtig zusammenpassen. 

Ohne Titel aus der Serie Berlin Noir, 1977–2016 Foto: Miron Zownir

Miron Zownir kam 1975 nach West-Berlin und tauchte in den Berliner Untergrund ein. In einer Welt, umgeben von Exzess, Drogen, Hausbesetzung, Sex und Kunst entstand seine Serie Berlin Noir. Seine Fotos sind düster, schonungslos und zeigen das Berliner Leben von einer besonders echten Seite. Die Menschen auf den Fotos wirken wie Hinterbliebene einer verlassenen Stadt, die ohne Regeln und ohne Konsequenzen im Rausch baden. 

Die Berliner Mauer spielt in der gesamten Ausstellung fast nur eine Nebenrolle. Bis auf die diagonal durch die Ausstellungshalle verlaufende Wand, die eine minimalistische Abbildung der Mauer darstellt, ist sie in den Fotografien selten zu sehen. Sibylle Bergemann fotografierte entlang der gefallenen Mauer und fand nur die vollgekritzelten, kaputtgeschlagenen Überreste. Bevor Bergemann die Mauer zu ihrem Motiv machte, schlich sie sich ins Clärchens Ballhaus und beobachtete die Menschen beim Tanzen. 

Andreas Rost, einer der Mitbegründer des Künstlerkollektivs im Tacheles, dokumentierte in der Serie Tacheles: Alltag im Chaos (1990–1993) das Leben und die Arbeit von Künstler*innen, die das bröckelnde Gebäude besetzten. Ebenfalls sind nie zuvor gezeigte Bilder aus Rosts Serie Paraden/Berlin (1996–2003) in der Ausstellung zu sehen. Die Schnappschüsse zeigen Szenen aus einem fast vergessenen Leben: Feiernde Hedonist*innen tanzend und eng gedrängt auf der Love Parade. 

Ohne Titel aus der Serie Paraden/Berlin, 1996–2003 Foto: Andreas Rost

Der Begriff Zeitreise wird besonders im Werk von Michael Wesely deutlich. Der Münchener Fotograf, der viel mit Langzeitbelichtung experimentierte, richtete seine Kamera Ende der 1990er Jahre auf den Leipziger Platz und ließ über mehrere Jahre den Auslöser gedrückt und die Blende geöffnet. Das Ergebnis ist eine Aufnahme, die Bewegung und Entwicklung während der Bauphase am Leipziger Platz dokumentiert. Ohne es zu merken, verbringt man Ewigkeiten vor dem Bild und versucht, die unzähligen sich überlagernden Ebenen zu begreifen. 

Eine Großaufnahme, die von Harf Zimmermann auf dem Dach des Grand Hotels auf der Friedrichstraße aufgenommen wurde, schließt den Rundgang ab. Gegenübergestellt mit Herbert Henskys Werken, unterstreicht die Nachtaufnahme den ständigen Umbruch, in dem sich die Stadt  befindet. Zimmermanns Fotografie liest sich ebenfalls als Sinnbild für die Redewendung: “Die Stadt, die niemals schläft.” Wer Berlin kennt, weiß, dass die Stadt sich erst richtig erleuchtet, wenn die Sonne untergeht.

Grand Hotel Friedrichstraße, 1994 Foto: Harf Zimmermann