27. March 2021
Seija SeidemannDie Goldenen Zwanziger in der Philharmonie
In der zweiten Februarhälfte 2021 luden die Berliner Philharmoniker zu einer Reise in „Die Goldenen Zwanziger“ ein. Für das Abschlusskonzert des Online-Festivals dirigierte Christian Thielemann Stücke von Hindemith, Busoni und Strauss.

Berlin ist in den zwanziger Jahren geprägt von Unruhen, Armut und Straßenkämpfen, aber auch von den glanzvollen Partys mit allem Luxus. Die Stadt ist voller Verkehrsmittel. Doppelstockbusse drängen sich zwischen hupenden Autos und Pferdekutschen, an den Fassaden hängen grelle Leuchtreklamen, und Menschen strömen von A nach B. Berlin wird in den 1920er Jahren immer mehr zur typischen Großstadt – und für viele Künstler zur Inspirationsquelle.
In diese Welt katapultieren Christian Thielemann und die Berliner Philharmoniker das Publikum mit dem Auftakt des Konzertabends. Die Ouvertüre aus Paul Hindemiths Neues vom Tage reißt einen unvermittelt mit in dieses wilde Berlin. Ab 1927 weilte der Komponist hier und ließ sich zu dieser modernen Oper inspirieren. Alles Neue, das ihn umgab, scheint er aufgesaugt und in Musik übersetzt zu haben. Das abwechselnd vielschichtig laute, mal leiser beschwingte Stück endet ganz plötzlich mit dem Konzertschluss.
Stille.
Der Applaus fehlt – auch physisch. Es ist wie bei einem Lied, das man gut kennt, und das mittendrin abreißt … So brillant die Qualität der Übertragung auch ist, wie dankbar man über die Technik und Möglichkeiten der Digital Concert Hall auch sein kann, diese Stille am Ende macht einem die aktuelle Situation wieder bewusst: Noch immer sind alle Konzerthäuser und Kulturstätten geschlossen.

Mit schweren Posaunen- und Trompetenklängen beginnt der Tanz-Walzer von Ferruccio Busoni. Die Töne steigern sich kurz wie zum Finale, dann übernehmen die Streicher fast schon sanft. Sie formen einen dichten, voluminösen Teppich aus Klang. Kurz gewähren Querflöte und Klarinetten einen Vorgeschmack auf ihren gleich beginnenden Tanz, bevor die Blechbläser das Stück wieder an sich reißen. Das Bild einer Tanzszene aus Klängen wollte Busoni zeichnen, zu Ehren von Johann Strauss. So erklärte er es dem Publikum, als das Stück vor genau 100 Jahren in der Berliner Philharmonie erstmalig aufgeführt wurde.
Und was würde besser anschließen, als eine Komposition eben jenes Musikers, dem Busoni seine Ehrerbietung darbringen wollte: Das Künstlerleben von Johann Strauss II lässt im Geist einen reich verzierten Ballsaal entstehen. Auf dem Parkett drehen sich schwingend die bodenlangen, weiten Röcke graziler Damen im Gleichtakt, elegant gekleidete Herren an ihrer Seite. So schön das Stück ist, ein wenig fremd wirkt diese Komposition, die der Spiegel einer ganz anderen, früheren Zeit ist.
Christian Thielemann, der, nach den ungeschriebenen Regeln einer Konzertaufführung, die Bühne zwischen den Stücken verlässt, erscheint zum dritten Teil des Abends in Begleitung von Camilla Nylund. Applaus erklingt. Endlich! Dieses gewöhnliche, vor allem aber so gewohnte Element, komplettiert das Konzerterlebnis irgendwie – auch wenn es “nur” der Beifall des Orchesters ist. Er gilt der Sopranistin, die in Vertretung ihrer Kollegin Diana Damrau sechs Orchesterlieder von Richard Strauss singt.
Die erste dieser eher kurzen Kompositionen, ist das Ständchen. Die unerwarteten Wechsel von Tonhöhe und Geschwindigkeit machen das Lied besonders. Flöten und Harfen imitieren die Vöglein und den dahin plätschernden Bach harmonisch, leicht und froh. Dann wechselt die Stimmung. Trompeten und Trommel vertreiben die zarten Klänge und ein dunkles Meer aus Streichern gesellt sich hinzu. In geheimnisvoller Dämmerung küssen sich die Verliebten, wild und voller Gefühl. So erzählt es das Lied und so berichtet die Musik. Alles endet im orchestralen und gesanglichen Höhepunkt, den “Wonneschauern der Nacht”. So viel Musik, so viel Emotion können in zwei Minuten Platz finden. Die nächsten 15 Minuten vergehen im Flug. Mit “Morgen” endet der Auftritt der finnischen Sopranistin, die unter dem Beifall des Orchesters die Bühne verlässt.
Den Abschluss des Festivals und Konzertabends bilden die vier Tageszeiten. Es sind Gedichte des Romantikers Joseph von Eichendorff, die Richard Strauss Ende der 20er Jahre zu den Kompositionen für Männerchor und Orchester inspirierten. Die Sänger des Rundfunkchors Berlin haben sich für diese Stück die Leere der Philharmonie zunutze gemacht und stehen über viele Reihen verteilt im Zuschauerraum.
Die Stimmen des Chors ergänzen das Orchester wie ein weiteres Instrument. Mal spielen sie im Einklang, mal versetzt, einander überlagernd, nur um wenig später wieder zusammen zu kommen, so dass der ganze Raum voll Musik ist. Das Konzert endet beruhigend mit dieser großen, weichen Fläche aus Klang: “Die Nacht”.
Das Konzert gehört nun zum großen Archiv der Digital Concert Hall und ist jederzeit abrufbar.