26. April 2021
Victor MarquardtLiebe in jedem Nadelstich
Während die Zentren vieler deutscher Städte mehr und mehr verwaisen, können Designerinnen und Designer in Berlin-Mitte Erfolge vermelden. Der stationäre Einzelhandel mit Nischenprodukten scheint im Zentrum der Hauptstadt zu funktionieren. Im Verkauf von ausgefallenen Waren sehen viele eine Möglichkeit, Onlinehandel und großen Ketten die Stirn zu bieten.
Es riecht nach Leder in der Werkstatt von Jörn Rischke. Genauer gesagt, nach frisch gebeiztem Leder. Denn die edle Haut von Rindern aus Irland oder Spanien bearbeitet der Täschner noch selbst in Handarbeit. Ein Betriebsgeheimnis, wie er sagt. Jörn Rischke macht alles selbst. Vom Design der Lederwaren, über die Wahl der Materialien, bis hin zur Produktion: Jede Tasche ist ein Einzelstück.
Seine Werkstatt mit angrenzender Boutique, die momentan pandemiebedingt geschlossen ist, betreibt er seit 1995 im Scheunenviertel in Berlin-Mitte. Auf dem wuchtigen Werkstatttisch liegen Bahnen von Leder übereinandergestapelt, alle unterschiedlich dick und von verschiedenster Beschaffenheit, in denen schon der nächste lederne Wegbegleiter schlummert.
Jörn Rischke, ein gebürtiger Magdeburger, schätzt am gemütlichen Viertel zwischen Hackeschem Markt und Rosenthaler Platz, dass die Kunden sich der hohen Qualität der Produkte bewusst seien, die Liebe in jedem Nadelstich zu schätzen wüssten und deshalb auch ganz gezielt die Geschäfte in der Gegend aufsuchten. “Ich wähle gemeinsam mit dem Kunden das Leder aus, überlege welche Stärke. Ich berechne nach Designwunsch des Kunden die Größe der Tasche, schneide die Haupt- und Seitenteile zurecht und beize das Leder dann in die gewünschte Nuance. Die Qualität und die Handarbeit sind dabei entscheidend, und das merkt jemand, der die Tasche am Schluss in der Hand hält auch.” Trotz der aktuell äußerst prekären Lage des stationären Einzelhandels kann Jörn Rischke eine unmittelbare Konkurrenz beispielsweise durch Onlinehandel in seinem Bereich noch nicht erkennen. “Die Kunden wissen eben, dass sie in den Geschäften hier im Viertel sowohl ein gutes Produkt als auch exzellenten Service bekommen.”

Ein Stammkunde, der zu Jörn Rischke in die Werkstatt kommt, um zwei verloren gegangene Nieten ersetzen zu lassen, bestätigt, dass das Flair und die Auswahl der Produkte im Scheunenviertel ganz besonders seien. Sowas fände man nicht oft in anderen Innenstädten.
Ganz abgesehen von Corona merkt aber auch Jörn Rischke, dass sich die Innenstadt hier in Berlin-Mitte verändert hat. Für Händler wie ihn war die Gegend wegen erschwinglicher und häufig gleichbleibender Mieten seit Beginn der 2000er ideal. Das sei aber vorbei. Dominierende Marken würden die Mieten in Mitte exorbitant nach oben treiben, was den Einzelkämpfern schon mehr und mehr zu schaffen mache, bestätigt Rischke.
Katrin Dietl, Sprecherin der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung verweist auf einen vor kurzem gewonnenen ersten Preis beim Bundeswettbewerb „Post-Coronastadt“ und legt zudem Masterpläne für die östliche Innenstadt der vergangenen Jahrzehnte vor. Gerade in Berlin-Mitte könne man von einer sehr zufriedenstellenden Entwicklung des stationären Einzelhandels sprechen, so Dietl.
Der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg Nils Busch-Petersen ist zwar auch der Auffassung, dass der stationäre Einzelhandel in Berlin-Mitte aufgrund des hohen Angebots von Nischenprodukten und ihrer hohen Qualität, des einladenden Charakters der Viertel selbst sowie des Wunsches der Käufer nach gutem Service, ein Alleinstellungsmerkmal und dadurch hohe Überlebenschancen habe. Er stelle aber trotzdem fest, dass einige Gegenden wie die Oranienburger Straße vor allem wegen überhöhter Mieten als Standort des stationären Einzelhandels zunehmend an Bedeutung verliere. Busch-Petersen ist sich sicher, dass von Seiten des Senats noch mehr getan werden könne, um die Attraktivität einzelner Innenstadtbereiche nicht nur bei Touristen zu steigern, die momentan wegfielen, sondern auch bei Berlinerinnen und Berlinern, die sonst eher die großen Shoppingcenter vorzögen.
Jörn Rischke nimmt sich eines der vielen Messer von der Wand und lässt es gekonnt durch das Leder gleiten. Er liebt seine Arbeit und ist froh, dass er mit seinen gebeizten Ledertaschen eine Marktlücke gefunden hat, weswegen seine Kunden auch weiterhin zu ihm kommen. Da ist er sich sicher.