Dächerkrieg in Zehlendorf

In Berlin-Zehlendorf gibt es eine Straße, in der die unterschiedlichen Bauformen der Moderne, um die in der Entstehungszeit heftig gestritten wurde, noch heute deutlich zu sehen sind. Flachdach auf der einen, Satteldach auf der anderen Straßenseite sind wie These und Antithese und zugleich exemplarisch für die reformerischen Architektur- und Stadtbautheorien des frühen 20. Jahrhunderts.

Am Fischtal: Zwei Versionen der Moderne Foto: Ulrike Alber-Vorbeck

“Wenn heute ein Architekt ein bergendes Dach baut, so gilt das als ein Wahrzeichen deutschnationaler Gesinnung. Wenn er das Dach abflacht, so entsteht etwas wie ein demokratisches Haus; macht er das Dach aber ganz platt, so bekundet er damit radikal kommunistische Gesinnung. Das Dach wird so zum Ausdruck politischer Einstellung.” Sarkastisch brachte der Kunstkritiker und Publizist Karl Scheffler in der Zeitschrift Kunst und Künstler den nur vordergründig bauästhetischen Konflikt auf den Punkt, der im Herbst 1928 im idyllischen Südwesten Berlins ausgetragen und unter Schefflers griffiger Bezeichnung als „Dächerkrieg“ in die Architekturgeschichte einging. Dahinter verbarg sich ein komplexes Geflecht kontroverser politischer Haltungen, die in den Bauformen insbesondere des Siedlungsbaus der Weimarer Republik ihre Gegensätze verkörpert sehen wollten. Architekturauffassungen wurden weltanschaulich aufgeladen.

Noch heute bildet in Zehlendorf die Straße Am Fischtal sichtbar eine Grenze zwischen zwei benachbarten Wohnsiedlungen, die wesentliche Merkmale des Neuen Bauens gegenüber einer traditionsverbundenen Moderne verdeutlichen. Einerseits die kubischen, stark farbigen Flachdachbauten der Waldsiedlung Onkel-Toms-Hütte, gegenüber die weiße Mustersiedlung Am Fischtal, konservativ-modern mit Sprossenfenstern, Klappläden und Satteldächern. Stilisiert zu gebauter These und Antithese, sind dennoch beide exemplarisch für die reformerischen Architektur- und Stadtbautheorien des frühen 20. Jahrhunderts und besitzen insbesondere im Gründungsprogramm des Werkbunds von 1907 und in der Gartenstadtbewegung gemeinsame Wurzeln.
Heute stehen beide Siedlungen unter Denkmalschutz.

Wohnungsnot war in der beständig rasant wachsenden Großstadt mit seinen dicht bebauten Mietshausquartieren bereits lange vor der Jahrhundertwende ein ungelöstes Problem.
1908 initiierte der Architekten- und Ingenieurverein einen Wettbewerb mit dem programmatischen Arbeitstitel „Groß-Berlin“ und der Aufgabe, einen neuen gemeinsamen Grundplan für die chaotisch wuchernde Stadt und die umliegenden Stadt- und Landgemeinden zu erstellen. Schlüsselthema der 1910 in der Allgemeinen Städtebauausstellung präsentierten Wettbewerbsbeiträge moderner Stadtplanung war die Wohnungsfrage. Die Entwürfe entwickelten über die Stadtgrenzen hinaus den Verkehrsausbau und weiträumige Siedlungen im Grünen, Kleinwohnungen ebenso wie Einfamilienhäuser zwischen Spiel- und Sportstätten, Wald- und Wiesengürteln.

Voraussetzung für diese Planungen war die Verbindung Berlins mit dem Umland, die 1920 mit dem Groß-Berlin-Gesetz in Kraft trat. Durch den administrativen Zusammenschluss der verstädterten Ballungsräume rutschte Berlin mit 3,8 Millionen Einwohnern nach London und New York auf Platz 3 unter den Weltmetropolen.
Verantwortlich für die Baupolitik aller Bezirke war die zentrale Baubehörde des Berliner Magistrats. Das Reichsheimstättengesetz zur finanziellen Förderung beim Erwerb von Wohneigentum wurde zum wichtigsten Instrument und Motor für den Siedlungsbau, der nach der Inflationszeit mit großer Dynamik einsetzte. Ab 1924 gründeten sich landesweit gemeinnützige, oft gewerkschaftsnahe Wohnungsbaugesellschaften. Koordiniert wurden die Unternehmen von dem Architekten und Stadtplaner Martin Wagner, der 1926 Stadtbaurat und Schlüsselfigur der Berliner Baupolitik wurde.
Für die Umsetzung der Wohnbauprogramme um die Forderung nach Luft, Licht und Sonne durch Typisierung und rationelle Bauweisen umzusetzen, engagierte er die Architekten des Neuen Bauens. Diese Siedlungen waren in ihrem klaren Funktionalismus auch gestalterisch radikal neu.

Architekten des Neuen Bauens – Bruno Taut und Paul Schmidthenner

Einer der wichtigsten und meist beschäftigten Architekten des Siedlungsbaus war Bruno Taut (1880-1938). 2008 nahm die UNESCO sechs seiner Berliner Siedlungen der Moderne in die Welterbeliste auf. Er hatte bereits beim Bau der Gartenstadt Falkenberg in Grünau 1913-16 Elemente des Neuen Bauens exemplarisch vorweggenommen. Taut schuf ein abwechslungsreiches stadträumliches Gefüge aus kleinen, typisierten Reihenhäusern mit Gärten und Giebeldach und als hervorstechendem, zudem kostengünstigen Gestaltungsmittel einer intensiven Farbgebung. Bruno Tauts virtuoser Einsatz der Farbe stand im Widerspruch zu dem vorherrschenden Grundsatz, nur die Materialfarben zu verwenden. Dem folgte Paul Schmitthenner (1884-1972) beim Bau der Gartenstadt Staaken bei Spandau 1914-17. Er bezog sich bei den Fassaden auf lokale Traditionen wie märkische Backsteinkirchen, Stufengiebel und Hausteinsockel und entwarf ein Baukastensystem aus vorgefertigten Teilen, die zu verschiedene Haustypen unterschiedlich zusammengesetzt und mit Fassadenvarianten kombiniert werden konnten. Schmitthenner erreichte so eine große architektonische Vielfalt in einem komplexen stadträumlichen System.

Beide Architekten gehörten zur gleichen Generation und wurden wichtige Impulsgeber für den späteren Siedlungsbau. Beide verbanden ihre Architektur mit dem gesellschaftspolitischen Anspruch, guten und gesunden Lebensraum mit erschwinglichen Wohnungen zu bauen. Stadtplanerische Kenntnisse hatte Taut sich während seiner Jahre 1904-08 in Stuttgart und im Büro des Architekten und Hochschullehrers Theodor Fischer angeeignet, in dem Schmitthenner seinen „geistigen Vater“ sah.
Trotz ihrer Gemeinsamkeiten prägten Taut und Schmitthenner in Theorie und Baupraxis unterschiedliche Architekturauffassungen, die im Verlauf der 1920er Jahre zunehmend polarisierten.
Bruno Taut wurde zu einer zentralen Figur der Berliner Architektenszene der Avantgarde, war 1919 Wortführer im Arbeitsrat für Kunst und 1926 Mitbegründer der Architektenvereinigung Der Ring aus Vertretern einer Internationalen Moderne.
Als Architekt der Waldsiedlung Onkel-Toms-Hütte wurde er zu einem Protagonisten im Zehlendorfer Dächerkrieg. 1932 ging er, zunächst fasziniert von den revolutionären Ideen nach Moskau, kehrte aber bitter enttäuscht von der wirtschaftlichen und politischen Realität nach Berlin zurück. 1933 emigrierte er nach Japan, später in die Türkei, wo er sein monumentales Fakultätsgebäude in Ankara baute.
Paul Schmitthenner erhielt 1918 eine Professur und wurde einer der wichtigsten Vertreter der traditionalistisch-modernen Stuttgarter Schule. Er formulierte Leitgedanken zum ökologischen Bauen und zur Heimatschutzarchitektur. 1928 war er Mitbegründer der Architektenvereinigung Der Block, die sich in Abgrenzung zur Gruppe Der Ring bildete und scharfe Kritik an der Abstraktion der Stuttgarter Werkbundsiedlung Am Weissenhof übte.
1928 war Paul Schmitthenner mit einem Haus in der Versuchssiedlung Am Fischtal vertreten.
Sein Verhältnis zum NS-Staat war zwiespältig. Zwar trat er 1933 in die NSDAP ein, lehnte eine Berufung nach Berlin ins Reichsministerium jedoch ab und wandte sich kritisch gegen die aufkommende Monumentalarchitektur.

Umstrittene Großsiedlung am Rande der Stadt

1920 erstreckten sich um die Seenkette im Südwesten Berlins ausgedehnte Laub- und Kiefernwälder und in sie eingebettet weitläufige Villenkolonien. In die idyllische Waldlandschaft hinein baute der Unternehmer Adolf Sommerfeld ab 1926 für die Wohnungsbaugesellschaft GEHAG 1000 Geschosswohnungen und 900 Einfamilienreihenhäuser mit U-Bahnanschluss, benannt nach dem nahe gelegenen Ausflugslokal Waldsiedlung Onkel-Toms-Hütte. Martin Wagner beauftragte Bruno Taut, Hugo Häring und Otto Rudolf Salvisberg mit der Planung. Mit nur zwei flachgedeckten Haustypen, Gärten und elemarsten Details gelang ihnen eine Großsiedlung mit herausragender architektonischer und städtebaulicher Qualität. Ihr auffallendstes Gestaltungsmittel, die Farbe, trug ihr den Namen Papageiensiedlung ein. Bruno Taut erzeugte mit einem an Morgen- und Nachmittagssonne ausgerichteten Farbschema Plastizität und unverwechselbare Räume. Er verwendete die Farben der umgebenden Natur, Sandgelb, stumpfes Grün und Braunrot der Kiefern und ein intensives warmes Himmelblau, „Taut-Blau“ genannt.
Das Großbauprojekt war jedoch ein erheblicher Eingriff in Landschaft und Struktur. Das Zehlendorfer Bezirksamt, lanciert durch die Lokalpresse, versuchte, den geplanten Massenwohnungsbau formaljuristisch abzuwenden und bezog sich auf das Ortsgesetz zum Schutze der Stadt Berlin vor Verunstaltung, um die an „orientalische Gefängnisse“ erinnernden flachgedeckten Kuben und die „kitschigen“ Fassaden zu verhindern.
Doch trotz vehementer Ablehnung war die Genehmigung des Berliner Magistrats nicht zu kippen. Der Siedlungsbau mit dem Ziel, in kurzer Zeit möglichst viele kostengünstige Wohnungen herzustellen, hatte Priorität, die Gewerkschaften gewannen an Einfluss und die gemeinwirtschaftlichen Wohnungsgesellschaften waren die neuen starken Bauherren.

Um dennoch der Geschmacksfrage im Streit um Bauformen einen sichtbaren Ausdruck zu verleihen, baute wiederum Adolf Sommerfeld 1928 mit der Baugesellschaft GAGFAH am südlichen Rand der Waldsiedlung längs dem Fischtalpark die Mustersiedlung Am Fischtal für ein fortschrittliches Wohnungsbaukonzept in traditionsgebundener Formensprache.
Unter Leitung des Architekten und Gartenstadtplaners Heinrich Tessenow entstanden 120 Wohnungen, Ein- und Mehrfamilienhäuser nach Entwürfen bekannter Architekten wie Hans Poelzig, Paul Mebes, Paul Emmerich oder Paul Schmitthenner. Im Unterschied zur Waldsiedlung gab es eine größere Typenvielfalt. Wert wurde auf die Individualisierung der einzelnen Häuser, regionale Bezüge der Formen und auf die handwerkliche Ausführung von Details gelegt. Einheitlichkeit entstand durch die weiße Farbgebung von Putz und Fassadenelementen, Sprossenfenstern, Holzläden und -spalieren und durch im 45°-Winkel geneigte Satteldächer.

Streit um die Dachformen

Die gegensätzlichen Dachformen lösten eine äußerst scharfe, polemisch geführte Pressedebatte, maßgeblich zwischen deutsch-nationalen und fortschrittlich orientierten Zeitungen und Fachblättern, aus, die auch international Wellen schlug.
Das Flachdach wurde von seinen Gegnern nicht nur bautechnisch in Frage gestellt, sondern ein Haus ohne Dach galt ihnen als “der Volksseele fremd”, asketisch und unwohnlich und für Angehörige der Arbeiterklasse mit geringen Einkünften nicht nur unerschwinglich, sondern auch unverständlich.
Im Giebeldach wiederum sahen seine Kritiker mit Weltverbesserungsanspruch ein Symbol für die überkommene Sehnsucht nach dörflicher Idylle, die es zu überwinden galt. Das flächenraubende Bauen war für sie eine Verweigerung gegenüber der urbanen Gegenwart mit ihrer drängenden Wohnungsnot, dem sie mit elitärer Rigorosität ihren Rationalismus entgegensetzten.

Der „Dächerkrieg“ war ein Streit um eine Architekturform, nicht aber zwischen den bauenden Architekten. Walter Gropius, der den zugehörigen Ausstellungsbau entworfen hatte, konstatierte in seiner Eröffnungsrede: “Ob ein Dach flach oder steil konstruiert wird, ist allein nach Zweckmäßigkeit, Technik und Wirtschaftlichkeit zu beantworten. Es ist falsch, wie es heute im Kampf um die neue Architektur geschieht, Glaubenssymbole daraus zu machen.”

Dennoch wurden die beiden Siedlungen im “Zehlendorfer Dächerkrieg” genau dazu gemacht und als Bau und Gegenbau stilisiert: Bürgerliche Individualität versus sozialistische Solidarität, Handwerk versus Industriefertigung, Behaglichkeit versus Rationalität.
Formale Kennzeichen und Ausprägungen architektonischer Formen wurden letztlich genutzt, um unterschiedliche politische Positionen propagandistisch zuzuspitzen. In seinem Siedlungsmemoiren formulierte Bruno Taut rückblickend:

“Dieser Dächerstreit nahm die unüberbrückbaren politischen Abgründe, die sich zwischen konservativen und progressiven Kräften 1933 auftaten nur mehr vorweg.”

Die Arbeit entstand im Rahmen des von Prof. Annett Gröschner geleiteten Seminars “100 Jahre Groß-Berlin” im Wintersemester 2020/2021.