09. May 2021
Nils ErichDie neue Lust am Regelbruch
Einfach mal raus? Das ist im Moment schwieriger als sonst. Aber selbst wenn’s illegal ist: Vielleicht bewahren wir uns so ein wenig davon, was uns als Menschen ausmacht.

Heute könnte ich rausfahren. Ich würde das Zelt aufs Fahrrad schnallen und den Schlafsack und ein paar andere Lieblingsdinge, die Sonnenbrille auf und dann raus, raus aus der Stadt, rein ins Grüne, Weite, Menschenferne. Das wäre natürlich illegal, denn in dieser Zeit darf man weder wild zelten, noch sich nachts außerhalb des Zuhauses aufhalten.
Ach, wie schön wär’s doch, wenn die Menschen noch in Naturrechten dächten! Oder besser noch, wenn die Juristïnnen so dächten und die Polizei. Ich – und mit mir Tausende – würden zu Zauberïnnen der Nacht, Jüngerïnnen der Natur, denen kein Besitz heilig ist, denn in der Natur gibt es kein Eigentum. Überall auf dem Land stünden kleine Hütten zum Schutz vor Wind und Wasser; darin friedliche Voyeurïnnen der Natur, die morgens vom Summen der Bienen sich wecken ließen. Und niemand störte diese Ruhe, diesen Frieden, denn alle würden verstehen, dass in der Natur kein Mensch einen anderen aussperren sollte.
Wo sich früher ein Vagabund Goldmund nennen konnte, wird er heute Penner genannt, und Nomadïnnen gelten nur als cool, wenn sie sich ein Airbnb leisten können. Schlafen im Heuhaufen oder bei den Ziegen ist aus dem Horizont des Möglichen gerückt, und das schlägt sich auch im Recht nieder, wo fast jedes Betreten eines fremden Grundstücks als Landfriedensbruch gelten kann. Anders gesagt: Entlang der Straßen hat das Recht unsichtbare Wände gebaut. Sie schützen das Eigentum, und zwar vor allem vor denen, die sich keins leisten können. Übrigens gilt das auch in der Stadt: Auch da schützen Wände nur die, die sich überhaupt ein paar Wände leisten können.
In einer Welt, in der Eigentum die Naturrechte des Menschen beschränkt, in einer solchen Welt lässt es sich für viele sehr gut leben. Das sei zugegeben. Aber dort droht auch etwas verloren zu gehen, nämlich die Freiheit, abseits der Wege zu laufen, die Naturerfahrung, und die Freiheit, sich selbst Freiheit zu nehmen. Und darum hier eine kleine Idee: Warum nicht die Lust am kleinen Regelbruch kultivieren? Hier und da, wo es niemandem wehtut, ungehorsam, widerständig, autonom sein. Und menschlich.
So liege ich im Bett, denke: Heute könnte ich rausfahren. Mit Fahrrad, Zelt und ein paar Lieblingsdingen zum Sonnenuntergang auf den Pimpinellenberg, und es wäre vielleicht das einzig richtige für diesen sonnigen Samstag mitten in einer Pandemie.