13. May 2021
Victor MarquardtDie Karl-Marx-Allee als Weltkulturerbe
Die Ostberliner Magistrale sollte schon einmal in die Liste der UNESCO-Welterbestätten aufgenommen werden. 2014 klappte es nicht, jetzt wird ein neuer Versuch gestartet. Die Chancen stehen nicht schlecht.

„Warum ist die Karl-Marx-Allee eigentlich nicht schon längst Weltkulturerbe“, fragte meine Oma früher regelmäßig. Sie und mein Opa gehörten zu den Mietern, die 1962 als Erstbezug in das, vom Alexanderplatz gesehen, erste Haus des Bauabschnittes II der Karl-Marx-Allee zogen. Die Nummer 4, direkt hinter dem Haus des Lehrers – zehnte Etage, Südseite, Sonne satt und hell – ein Traum von einer DDR-Neubauwohnung.
Das Leben meiner Großeltern und meiner Mutter spielte sich zum großen Teil in der „neuen“, aber auch in der „alten“ Karl-Marx-Allee ab. Denn am Strausberger Platz, Karl-Marx-Alle 57, wohnten meine Ur-Oma, meine Großtante und mein Großonkel. Das Flanieren auf der Karl-Marx-Allee zwischen den beiden Wohnungen, entlang der Stalinbauten und an den Pavillons von Josef Kaiser vorbei, war fester Bestandteil des Familienalltags.
Der Staat, in dem meine Mutter heranwuchs und meine Großeltern jung waren, existiert nicht mehr. Die Straße, in der sie damals lebten und das Haus, in dem meine Oma noch bis zu ihrem Tod wohnte, die gibt es noch – Zeugnisse vergangener Zeit und ein architektonisches Kulturgut des heute wiedervereinten Berlins.
Stalinallee, so nannten die älteren in der Familie die Karl-Marx-Allee noch häufig – früher, als ich Kind war. Zwar war der sowjetische Diktator bereits seit 1953 tot, sein Name blieb aber bis 1961 auf den Straßenschildern. Die Entstalinisierung in der DDR war nach dessen Tod zum Teil inkonsequent und schleppend vorangegangen, mit dem Niederreißen der Stalinstatue an der Andreasstraße wurde die Straße dann aber in Karl-Marx-Allee umbenannt.
Und wer sich jetzt fragt, wozu man die Stalinbauten, die ja eigentlich nur an die Nachkriegszeit erinnern, und die ollen Plattenbauten im vorderen Teil der Karl-Marx-Allee überhaupt zum Weltkulturerbe erklären sollte, der erhält die Antwort, dass in dieser Straße mit ihren vielen verschiedenen architektonisch spektakulären Gebäudeensembles die Historie Berlins in Stein gemeißelt ist.
HISTORIE BERLINS IN STEIN GEMEIẞELT
Wie sonst nirgends in der Hauptstadt lassen sich in der Karl-Marx-Allee die Wendungen von Architektur und Städtebau der DDR so gut erkennen. Dies war ein Grund, warum die Karl-Marx-Allee in Gänze sowie Teile der angrenzenden Frankfurter Allee vom Landesdenkmalamt Berlin unter Denkmalschutz gestellt wurden. Doch vielen Berlinerinnen und Berlinern und vor allem Anwohnerinnen und Anwohnern reicht nur der Denkmalschutz nicht aus. Sie wollen ihre Straße auf der Liste der UNESCO-Weltkulturerbestätten sehen. So auch Achim Bahr, Gründungsmitglied und Vorstandvorsitzender des Vereins Stalinbauten e.V. Er kämpft seit langem für einen würdigen Umgang mit Denkmälern der DDR und tritt leidenschaftlich für die Karl-Marx-Allee ein. Er befürwortet einen erneuten Antrag auf Anerkennung der Allee als Weltkulturerbe, nachdem der erste bereits im Tentativverfahren 2014 erfolglos war. Dennoch gibt er zu bedenken, dass es auch dieses Mal nicht allzu einfach werden könnte.
Zunächst sei es für Deutschland generell schwierig, überhaupt noch Welterbestätten vorzuschlagen, denn Europa und vor allem Deutschland seien in der Liste der UNESCO weltweit am häufigsten vertreten. Vielmehr sollen die Staaten, die unterrepräsentiert sind, zumeist in Afrika oder Asien, in den Fokus gerückt werden.
Für Berlin stehen die Chancen für eine Aufnahme der Karl-Marx-Allee, Bauabschnitt I und II, in die UNESCO-Liste aber derzeit trotzdem ganz gut. Grund dafür seien laut Angaben der Sprecherin der Berliner Senatsverwaltung für Kultur, Anja Scholtyssek, die umfangreichen Vorbereitungsmaßnahmen für den Antrag, sowohl von Seiten des Senats als auch der des Landesdenkmalamtes, die Karl-Marx-Allee gemeinsam mit Interbau 1957 im Hansaviertel als Nachkriegserbe bei der UNESCO vorzuschlagen.
Tatsächlich ist der Antrag bei der UNESCO von zwei Berliner Gebäudeensembles mit der Karl-Marx-Allee im Osten und Interbau 1957 im Westen, in erster Linie ein wichtiges Zeichen für das wiedervereinte Berlin. Gleichzeitig ist diese Doppelbewerbung aber auch die Bedingung, um überhaupt Weltkulturerbe werden zu können.
DOPPELBEWERBUNG EIN WICHTIGES ZEICHEN
Achim Bahr bestätigt, dass nur mit dem gemeinsamen Vorschlag von Karl-Marx-Allee und Hansaviertel eine fundierte Grundlage für eine weitere Weltkulturerbestätte in Berlin geschaffen werden könne. Mit anderen Worten: Die politische Geschichte der Stadt – der Fakt, dass Berlin als einzige Hauptstadt der Welt auf zwei Staatsgebieten existierte, sich das folglich auch architektonisch widerspiegelt – werde Berlin letztendlich zu einer weiteren Weltkulturerbestätte verhelfen.
Auch Anja Scholtyssek bestätigt, dass anders als bei der ersten Bewerbung, man heute ein gutes Konzept und zahlreiche Begründungen ausgearbeitet habe, warum die Karl-Marx-Allee und Interbau 1957 wichtige städtebauliche Zeugnisse des Wiederaufbaus nach 1945 seien. Zudem seien die Gebäudeensembles von höchster politischer Relevanz als Ausdruck eines totalitären Staates in Ost-Berlin im Gegensatz zu der zur Schau gestellten Bauideologie der weltoffenen Vielfalt im damaligen West-Berlin. Die Senatsverwaltung zeigt sich offenbar zuversichtlich, dass es dieses Mal mit einer Bewerbung klappen könnte.
Auch Achim Bahr verspricht sich von einer Ernennung der Karl-Marx-Allee und Interbau 1957 zum Welterbe in der Metropolregion Berlin-Brandenburg eine Art Bewusstseinserweiterung, in welch besonderer Stadt man hier eigentlich lebt: eine Stadt, die zwar jetzt wiedervereint ist, aber dennoch in der Zeit der Teilung ganz architektonisch verschieden und unabhängig voneinander umgebaut und wiedererrichtet wurde. Das wäre ein wichtiges Zeichen, über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung.
Wenn es zur einer Ernennung als Welterbestätte kommen sollte, hieße das auch, dass es Verpflichtungen des Landes Berlin zur Pflege und Sanierung gäbe, die finanziell abgesichert werden müsse. Laut Sprecherin Scholtyssek werde dies bereits jetzt, also in der Vorschlagsphase, intensiv vorbereitet.
Das Geld für die UNESCO-Bewerbung komme also letztendlich den Berlinerinnen und Berlinern zu Gute. Und wenn sich genau diese Berlinerinnen und Berliner, zu denen ja auch meine Oma gehörte, jetzt fragen, warum die Bewerbung so spät kam, dann ist die Antwort: weil es in Berlin häufig andere städtebauliche Prioritäten gab. Das bestätigt auch Achim Bahr. Jetzt, 30 Jahre nach dem Ende der DDR, einem eingemauerten West-Berlin und vielen städtebaulichen Fehlern, solle es aber soweit sein. Die Priorität sei jetzt da, sagt Bahr.
Dass sich Berlin jetzt wieder intensiver mit der Karl-Marx-Allee, ihrem Bestand und ihrem Antlitz beschäftigt, konnte man uletzt noch bei den umfangreichen Bauarbeiten zur Instandsetzung der Fahrbahn, der Gehwege und des Mittelstreifens beobachten. Verkehrssenatorin Regine Günther von Bündnis 90/Die Grünen drängte seit Beginn der Bauarbeiten darauf, den Mittelstreifen von seiner ursprünglichen Verwendung als Parkplatz in einen Grünstreifen umzuwandeln. Dass dies aber gegen die Auflagen des Denkmalschutzes verstoßen würde, wurde von der Senatorin nicht beachtet. Denn der Mittelstreifen auf der Karl-Marx-Allee war vor der Wende Teil des Aufmarschareals auf für diverse Militärparaden der DDR-Regierung. Unter anderem anlässlich des Nationalfeiertags am 7. Oktober und des Tages der Arbeit am 1. Mai.
Mit der Begründung eines Zugewinns für das Stadtklima und der Möglichkeit zur Versickerung von Regenwasser blieb die Senatsverwaltung trotz scharfer Kritik aus Politik und Anwohnerschaft bei ihren Plänen. Auf einer Pressekonferenz und Anwohnerversammlung 2018 im Kino International, bei der neben Verkehrssenatorin Günther auch der Baustadtrat und stellvertretender Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte, Ephraim Gothe (SPD) sowie Christoph Rauhut, Landeskonservator und Direktor des Landesdenkmalamtes Berlin, anwesend waren, wurde die Idee seitens der Verkehrssenatorin verteidigt. Zwar sollte über die Zukunft dieses Mittelstreifens auf der Versammlung diskutiert werden, relativ schnell kristallisierte sich aber heraus, dass die Entscheidung zur Umwandlung in einen Grünstreifen bereits unabänderlich feststand. Kritische Fragen wurden abgeblockt, nur wenige Fragen aus dem Publikum zugelassen, was die Bürgerschaft in großen Teilen verärgerte bis empörte.
FEHLENDE TRANSPARENZ
Auch Achim Bahr war damals vor Ort und berichtet über die fehlende Transparenz bei den Entscheidungen des Senats, obwohl die Möglichkeit der Bürgerbeteiligung angekündigt worden war.
Tatsächlich hatten die meisten Gegner der Mittelstreifenbegrünung nach Meinung Achim Bahrs keine guten Argumente vorgelegt, warum der Parkplatz in der Mitte unbedingt bleiben müsse. Sie hätten angegeben, dass eine Bewässerung und anschließende Versickerung des Regenwassers ins Grundwasser nicht möglich seien, da unter der Karl-Marx-Allee die U5 fahren würde. Dass der Tunnel aber gar nicht unmittelbar unter der Fahrbahn, sondern unter dem Gehweg entlangführt, hatten die Anwohner dabei nicht bedacht und schossen sich bei der Argumentation so ein Eigentor.
Achim Bahr gibt bei der Entscheidung für den Grünstreifen ganz klar zu bedenken, dass durch derartige Veränderung des Bildes der Karl-Marx-Allee und der damit verbundenen Missachtung des Denkmalschutzes auch die Aufnahme des Areals als Weltkulturerbe gefährdet werden könne.
Letztendlich kann man nicht voraussagen, ob die Karl-Marx-Allee gemeinsam mit Interbau 1957 im Jahr 2024 in die Liste der UNESCO aufgenommen wird. Die Voraussetzungen sind jedoch seitens des Landes Berlin für beide Viertel gegeben, gegeben. Die Vorarbeit wurde geleistet und bei der Bewerbung wurde sich intensiv darauf vorbereitet, welche Argumente bei der Bewerbung ausschlaggebend sind. Es war ein langer Weg, doch jetzt ist das Ziel in Sicht. Karl-Marx-Allee und Interbau 1957: ein gemeinsames Weltkulturerbe in Ost- und West-Berlin.
Der Text entstand im Rahmen des von Professor Annett Gröschner geleiteten Seminars “100 Jahre Groß-Berlin” im Wintersemster 2020/2021.