14. June 2021
Victor MarquardtDoch kein Herz aus Stahl
Eisenhüttenstadt ist vor allem für eines bekannt: Stahl. Doch dass die Oder-Metropole im Südosten Brandenburgs noch viel mehr zu bieten hat als schmutzige Hochöfen, beweist ein architektonischer Spaziergang.
Eigentlich ist Eisenhüttenstadt durch den RE1 recht gut an Berlin angebunden, momentan wegen Bauarbeiten am Gleis aber nur per Bus ab Frankfurt (Oder) zu erreichen. Als ich am dezent in die Jahre gekommenen Busbahnhof aus dem Ersatzverkehr stolpere, wundere ich mich schon, in welche Zeit ich in diesem Moment gerade gefallen bin. Späte 70er vermutlich – aber 19. Jahrhundert.
Ein Schriftzug mit “Ein Herz aus Stahl” begrüßt die Vorbeigehenden auf dem Weg in Richtung Innenstadt. “Na hoffentlich nicht”, denke ich und bin gespannt, was mich erwartet, und vor allem, was die sagenumwobene Architektur dieser Stadt so besonders macht.
Erste Etappe ist die Lindenallee und das Friedrich-Wolf-Theater mit antiquierten Säulen an der Giebelfront. Ist das vielleicht schon ein architektonisches Highlight? Im ersten Moment eher nicht, denn solch ein Theater findet man in vielen brandenburgische Städten. Doch direkt daneben entdecke ich einige den Straßenrand säumende Pavillons, die mich an jene in der Karl-Marx-Allee in Berlin erinnern. Und tatsächlich sind es Pavillons nach Entwürfen von Josef Kaiser. Dieser hat sich auch in der Hauptstadt einen Namen gemacht. Sein Markenzeichen sind die filigranen goldenen Fensterrahmen.

Der Spaziergang biegt ab in eines der Wohnviertel, und es fällt sofort auf, dass es sich bei diesen Gebäuden nicht um herkömmliche Ostplattenbauten handelt, sondern jedes Haus eine architektonische Besonderheit aufweist. Die Fünfgeschosser sind zwar im Grunde funktional, dennoch sind die Fassaden mit viel Liebe zum Detail gestaltet und verleiten einen zu der Annahme, dass sich hinter den Fenstern schön geschnittene Wohnungen mit hohen Decken verbergen.
Hinter dem sowjetischen Ehrenmal, das sich mitten in einem Wohnviertel in die Höhe streckt, betritt man eine Art Gartenstadt, die aus endlosen, mit Wohngebäuden umringten Innenhöfen besteht. Das Ensemble sieht ganz so aus, als würde es sich um eine Miniaturausgabe des Bauabschnitts I der Karl-Marx-Allee handeln. Es reihen sich Innenhof an Kollonadendurchgang an Innenhof und es wirkt gar so, als haben die Architekten gewollt, dass man seinen Weg durch die Stadt gerade inmitten dieser Gartenlandschaft fortsetzt. Alles offen, keine verschlossenen Tore oder Türen – ein Wohnpark für alle und jeden. Viele Bänke und Brunnen laden zum Pausemachen ein. Es lohnt sich tatsächlich, immer wieder kurz innezuhalten, die Architektur der Gebäude genauer zu betrachten und die ausladenden, hohen, sich perfekt ins Gebäudeensemble einfügenden Bäume zu bewundern, die vermutlich kurz nach der Grundsteinlegung vor 70 Jahren gepflanzt wurden.

Das am Reisbrett geplante Eisenhüttenstadt entstand ab 1950 als erste sozialistische Wohnstadt für die Arbeiterinnen und Arbeiter des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO). Die Gartenstadt sollte vor allem dazu dienen, sich nach getaner Arbeit im Stahlwerk erholen zu können. Mit sehr viel üppigem Grün direkt vor der Haustür. Die der ehemaligen Stalinallee in Berlin ähnelnde Architektur der Gebäudeensembles ist auch auf den etwa zeitgleichen Baubeginn zurückzuführen. Aber anders als vielleicht vermutet, sollte Eisenhüttenstadt nicht als Kleinstadtequivalent zur Ostberliner Magistrale entstehen. Ganz im Gegenteil: Auf den eigenständigen architektonischen Stil wurde Wert gelegt. Bei einem Besuch des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht nach der Fertigstellung des ersten Bauabschnitts, kritisierte er vor allem die Schlichtheit der Gebäude. Sie wären der ersten sozialistischen Wohnstadt der DDR nicht angemessen.

Ich dagegen bin von Eisenhüttenstadt begeistert und sehr überrascht, dass eine Stadt mit einem doch eher schmutzigen Ost-Industrie-Image und einem zudem derart hässlichen Entrée am Busbahnhof, mit einer so grünen Lunge überraschen kann. Nach meinem mehrstündigen Spaziergang durch alle Straßen und Winkel der Stadt, vorbei an den vielen Baudenkmälern, bin ich sehr vom Ergebnis dieser vollständig neu geplanten Stadt beeindruckt. Es ist gut vorstellbar, dass trotz eines Stahlwerkes in unmittelbarer Nachbarschaft die Lebensqualität hier unten im Südosten Brandenburgs, in den Stalinbauten von Eisenhüttenstadt, gar nicht so schlecht ist – günstige Mieten, hohe Decken und so viel Grün.