18. June 2021
Sarah Kailuweit„Ich flexe mir die Stadt zurecht“
Der tägliche Spaziergang ist für viele pandemiebedingt Alltag geworden. Aber das Umherstreifen im öffentlichen Raum ist immer auch politisch. Eine Textsammlung von 2019 macht deutlich, wie sehr Freiheiten von Privilegien geprägt sind.

Seit ein paar Wochen wird auf Instagram nicht mehr nur mit Sonnenuntergängen und Frühstückstafeln geflext, sondern mit kleinen braunen Pflastern auf dem Oberarm. Die Impfung als Statussymbol, das in den sozialen Netzwerken zelebriert wird. “Flexen” ist eigentlich das Verb zu einem tragbaren Gerät, dessen rotierende Scheibe harte Materialien schleift und trennt – so sagt es auch der Duden. Umgangssprachlich kann das Flexen aber auch die Muskeln (oder eben die Impfpflaster) zur Schau stellen bedeuten. Es ist außerdem ein Synonym für Geschlechtsverkehr, für das Variieren der Geschwindigkeit beim Rap und für Flâneuserie. “Ich flexe. Ich flexe mich in die Stadt, durch die Stadt. Ich flexe mir die Stadt zurecht. Flexen – das Wort mache ich. Ich gehe durch die Stadt, flaniere und flexe”, heißt es im Vorwort der Anthologie Flexen – Flâneusen* schreiben Städte von 2019. Eine Textsammlung voller Momentaufnahmen und Stadtmelodien, die immer noch vor lauter Aktualität schreit.
Im Lockdown war das Spazieren Pflaster für vieles: Theaterabende, Gastronomie, Raucherkneipennächte, Shoppingsamstage. Schrittzähler hechelten ihren Besitzer*innen hinterher, während auch bei Minusgraden eifrig Runden gedreht wurden – notfalls mit Thermounterwäsche und Glühwein. Man ging Spazieren, um Gesellschaft zu erleben, Sitzfleisch zu entlasten und um Dinge außerhalb der eigenen Behausung zu entdecken. Ein paar promenierten auch über die Friedrichstraße. Auffallend bei diesen Spaziergänger*innen: die Homeoffice-Jogginghose wurde gegen feinere Stoffe eingetauscht. Man präsentierte sich in Klamotten, die durch den Isolationswinter größtenteils überflüssig wurden. Al fresco durften die teure Handtasche und die italienischen Lederschuhe aber wieder glänzen. Kleidung ist schließlich auch da, um gesehen zu werden – außerhalb rechteckiger Computerfenster. Manch eine*r rutschte voller Beobachtungsneugier gegenüber der vorbeiziehenden Umwelt beim Spazieren in die Flâneuserie.
Alle, die dabei nicht gesellschaftlichen Normvorstellungen entsprechen, flexen.
Die Linie zwischen Spazieren, Promenieren und Flanieren ist dünn. Spazieren ist vor allem von der Gemächlichkeit des Laufens bestimmt. Promenieren und Flanieren sind Subkategorien der gemächlichen Bewegung im öffentlichen Raum: Wer promeniert, präsentiert sich (den eigenen Körper und/oder das persönliche Eigentum). Im Zentrum steht also das Subjekt, das von seinen Mitmenschen gesehen und möglichst positiv bewertet werden soll. Das Präsentieren im Promenieren lässt sich auch auf Begleitpersonen oder Tiere ausdehnen: Guckt mal was für eine*n hübsche*n Partner*in ich habe! Schaut wie süß mein Dackel ist! Die Angeberei im öffentlichen Raum lässt sich, ebenso wie die Impfpflaster-Fotos in den sozialen Medien, als Flexen beschreiben. Die Flexen-Anthologie des Verbrecher-Verlags fokussiert aber eine andere Spaziergangskategorie: das Flanieren. Im Fokus der Flâneuserie steht nicht der Körper des*der Gehenden, sondern seine*ihre Umgebung. Literaturlegenden wie Edgar Allan Poe und Walter Benjamin prägten das Konzept des männlichen Flaneurs, der durch Städte streift. Ziellos, langsam und detailverliebt schreitet der Flaneur durch die Welt und denkt in der Bewegung. Bereits Aristoteles wandelte gemeinsam mit seinen Lehrlingen durch seine Schule, um zu philosophieren. So kam es zum Namen “Peripatiker” von “Peripatos”, was Wandelhalle bedeutet. Flaniert wird also schon lange – meistens von denen, die es sich leisten können. Denn wer flaniert hat Zeit, Raum und eine gewisse Grenzenlosigkeit. Dieses Privileg stellt die Flexen-Anthologie aus.
Zum Beispiel durch die Reportage “Wie man eine Stadt erobert” von Julia Lauter. Sie begleitet die Inderin Neha Singh, deren Spaziergänge in Mumbai politisch sind. An ihrer Laufpraxis wird deutlich, wie sehr sich die Zugänge zum öffentlichen Raum für unterschiedliche Gruppen unterscheiden. Nachts mit den Kumpels auf der Straße Chai trinken? Kein Problem – wenn man ein Mann ist. Lauter läuft mit Singh durch die Mumbais Straßen und macht klar: Das ist Aktivismus.
Anneke Lubkowitz macht sich für ihren Anthologiebeitrag auf die Suche. Ausgehend von ihrem Wohnsitz im Wedding flaniert sie so lange per Zufallsprinzip durch die Straßen, bis sie eine findet, die nach einer Frau benannt ist. Der Weg ist lang, die Erkenntnis ernüchternd. In Berlin haben nur ein Bruchteil der rund 10 000 Straßen weibliche Namenspatroninnen, weswegen auch Lubkowitz schließlich resümiert: “Geht man nach Straßennamen, ist die Sichtbarkeit von Frauen in der Öffentlichkeit auch im einundzwanzigsten Jahrhundert keine Selbstverständlichkeit.”
Svenja Gräfen schreibt dagegen nicht nur als Frau, sondern als Mutter. Bereits der Rhythmus ihrer Worte in “Schritte machen” lässt das Herz pumpen. Die detaillierten Beschreibungen all der Unzugänglichkeiten, der sie als Frau mit Kinderwagen an ihrem Wohnort ausgesetzt ist, macht dann nur noch wütend. Auch Gräfens Schrittzähler rast, während sie zur nächsten U-Bahn-Station mit Aufzug sprintet, um von dort aus weiter zur Kinderärztin zu düsen. Auch in diesem Text der Flexen-Sammlung wird eine Lebensrealität fast protokollarisch erfahrbar, die sonst für nicht selbst Betroffene unsichtbar bleibt.
Die Texte der Anthologie positionieren sich somit alle mehr oder weniger explizit zum traditionellen Konzept des privilegierten Flaneurs, indem sie aufzeigen, dass die Städte, in denen die Autorinnen leben, nicht für sie gebaut wurden. Persönlichen Momentaufnahmen unterstreichen, wo und warum sich viele Gesellschaftsmitglieder nicht frei und unbeschwert im öffentlichen Raum treiben lassen können. Deswegen wird nicht von nur von Flâneusen als weiblichem Äquivalent zum Flaneur gesprochen, sondern von flexen: “Ein Wort mit vielen Bedeutungsebenen. Ich schneide mit ihm eine Kerbe in das ursprüngliche Verständnis vom Umherwandeln in Städten”, betont das Vorwort der Herausgeber*innen. Flexen ist ein gewaltvolles Verb. Es betont den Kraftaufwand der Flâneusen und macht die Widerstandskraft der Autor*innen sichtbar. So erfreulich all die mit Impfpflastern geflexten Oberarme auch sind: Es bedarf nicht nur einer Resilienz gegenüber dem Virus, sondern auch des Raums für marginalisierte Personen, die flexen.
Özlem Özgül Dündar, Mia Göhring, Ronya Othmann, Lea Sauer (Hg.): Flexen. Flâneusen* schreiben Städte, Berlin: Verbrecher Verlag, 2019