22. June 2021
Nils ErichHydra und Nidhöggr statt Delta
Die Umbenennung der Corona-Varianten ist geglückt und gut. Aber: Es gäbe eine inspirierende, global gerechte Alternative.

Deutschland lernt Griechisch. Zumindest das Alphabet, seitdem die Coronavarianten mit den Buchstaben Alpha, Beta, Gamma und so weiter bezeichnet werden. Die Umbenennung – oder eigentlich eher Taufe – hat gut funktioniert: Deutschland fürchtet sich vor Delta statt vor der “indischen Variante”. Auch scheint sich das Pandemiegeschehen nun besser gliedern zu lassen: Da war die Zeit des Wildtyps, gefolgt von der Alpha-Phase, nun ist Delta an der Reihe, und zum Glück hat das griechische Alphabet ja noch viele weitere Buchstaben. Auch die sprachliche Aufwertung sollte man beachten: Weil wir Delta haben, brauchen wir nicht ständig “Corona” sagen oder versuchen, mit Worten wie “coronär” oder “coronal” dabei originell zu klingen. Kurz: Das Schindluder mit Corona ist erstmal gestoppt.
Doch wie bei jeder Namenswahl kann man auch hier fragen, was die Namen eigentlich heißen sollen. Und da wird’s dann ebenso haarig wie beim Versuch, Namen wie Tom-Leonhard zu begründen. Den meisten ist das griechische Alphabet aus Physik und Mathematik bekannt (beziehungsweise unbekannt) geblieben – nicht immer mit guten Erinnerungen. Die Namenswahl bildet nicht nur die Dominanz der westlichen Wissenschaftstradition ab, auch den darin enthaltenen Eurozentrismus. Vor allem aber ist unklar: Warum wollen wir so ein Virus denn überhaupt “wertneutral” mit Wissenschaftssymbolik benennen?
Es gäbe ja eine tolle Alternative: Wenn uns die griechischen Buchstaben ausgehen, oder das nächste Virus die Menschheit heimsucht, dann könnten wir uns bei einem anderen Kulturgut des griechischen und weltweiten Altertums bedienen: der Mythologie. Viren könnten Chupacabra, Gonggong, Nidhöggr oder Hydra heißen, die Ungeheuer wieder Unheil stiften. Der Feind hätte Identität, die Angst ein Ziel. Das vielleicht Beste aber wäre, dass die Menschheit ihre uralten Erzählungen und eine darin liegende Weisheit wieder entdecken würde. Denn Ungeheuer sind – in all ihrer Ungeheuerlichkeit – ein Symbol für die Vergänglichkeit, Verletzlichkeit des Menschen. Und: Wer Nidhöggr fürchtet, weiß vielleicht auch, dass selbst der Weltenbaum Yggdrasil irgendwann welken wird, wenn zu viel an seinen Wurzeln genagt wird (nicht nur metaphorisch). Und ein Nachdenken darüber wäre nicht die schlechteste Folge von Corona.