23. June 2021
Annett GröschnerWortSchatz: verbläuen
Was ist eigentlich ein Kinkerlitzchen? Warum zieht es wie Hechtsuppe? Und was soll diese grüne Neune sein? Unsere Textkategorie “WortSchatz” ist die Fundgrube von Praxis. Hier graben wir nach Urgesteinen der Sprache, schürfen nach goldenen Zeichen und fördern allerlei verborgene Bedeutung zu Tage.

Wenn in meiner Zahnarztpraxis der Behandlungsstuhl in die Arbeitsposition gebracht wird, fällt der Blick der Patientin nicht auf eine weißgestrichene Decke, sondern auf ein an derselben wie eine Lampe befestigtes Foto. Es zeigt einen Strand, dem Licht nach irgendwas weit weg, Südpazifik vielleicht, oder Südostasien. Eine Frau sitzt unter einer Pflanze, die mehr Busch als Baum ist, aber genügend Schatten für eine Person spendet, an einem Tisch und liest. Links von ihr ist unter einem wolkenlosen Himmel ein stilles Meer, das die Frau keines Blickes würdigt. Der Silhouette nach ist es die Gattin des Zahnarztes, ich nehme deshalb stark an, dass der Zahnarzt persönlich der Urheber des Bildes ist. Sehnsucht und damit Ablenkung, wie wohl beabsichtigt, ruft es bei mir nicht hervor. Mich zieht nichts in solche Landschaften, ich hätte schon vor dem Flug mehr Angst als vor der Zahnbehandlung.
In den sechs Jahren, die ich die Praxis aufsuche, hat das Bild durch den Lichteinfall – die Fenster der Praxis gehen nach Westen, das Gebäude steht frei, der Sonne ausgesetzt – stark an Farbe eingebüßt. Um mich vom Kratzen, Schaben, Bohren, Schleifen, Polieren und Verfüllen abzulenken, denke ich über das Wort nach, mit dem sich die Veränderung des Bildes beschreiben ließe. Wäre es ein Schwarzweißfoto, ließe sich von vergilben sprechen, wie in dem Satz: “Er schaute ein vergilbtes Foto seiner Urahnen an und entdeckte eine Ähnlichkeit mit seinem Ururgroßvater, vor allem in der Nasenpartie.” Ein Farbfoto vergilbt nicht, im Gegenteil, das Licht filtert alle Gelb- und Rottöne heraus. Zurück bleibt ein helles Blau. Wie sagt man dazu? Verbläut? Wurde das nicht mit e geschrieben? Und ging es da überhaupt um die Farbe Blau?
Zu Hause schlage ich nach. Das Wort kommt von mittelhochdeutsch bliuwen, althochdeutsch bliuwan “schlagen”; gotisch bliggwan, “schlagen, prügeln”; niederländisch blouwen “Flachs brechen”, “die Arme umeinander schlagen, um warm zu werden”. Im Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm steht: “hauptsächlich heiszt es percutere, prügeln, schlagen: und man hat uns all gebleut und geschlagen. figürlich für repetere, obtundere: wenn man dem groben harten pöfel prediget, dem musz man es fürmalen, blawen und kawen.”
Seit der Rechtschreibreform von 1996, die auf Wortgeschichte nicht viel Wert legte, wird bläuen nicht mehr mit e geschrieben, sondern mit ä, als käme es von der Wendung “jemanden grün und blau schlagen”. Bei den Grimms steht auch: “Wenn der lein reif ist, so reufet, röstet, dörret, plewet man in.” Die Blüten des Leins sind von einem Blau, wie es auch Schläge unmittelbar nach der Tat auf der Haut der oder des Geschlagenen erzeugen. So ist aus einer Wendung eine Wortbedeutung geworden. Purist*innen der deutschen Sprache hätten die Rechtschreibreformer*innen dafür gerne verbleut, schlimmer allerdings sind für sie Benutzer*innen von Gendersternchen, die zu teeren und zu federn eine noch zu geringe Strafe bedeutete. Und was genau verbirgt sich hinter Teeren und Federn?