Zwischen Blumenkränzen, Schnaps und Fluss

Für Schweden ist Midsommar eine Tradition, für unsere Autorin eine neue Erfahrung. In einem internationalen Setting hat sie mitgetrunken. 

Das Midsommar-Event in Uppsala startet, die ersten Gäste finden sich im Garten ein. Foto: privat

Eigentlich hatte Albin auf Facebook nur 20 Leute zu seiner Midsommar-Feier eingeladen. Einige Freunde von Freunden später tummeln sich am späten Nachmittag des 25. Juni 2021 rund 40 junge Menschen vor dem beigen, zweistöckigen Haus von Albins Freunden Gustav und Jonas. Heute gibt’s Midsommar-Dinner und anschließend Party. Die Gäste? Nur zum kleineren Teil schwedisch, zum größeren Teil international: Erasmus- und Austauschstudierende aus Frankreich, Spanien, Vietnam, Kuba, England, Polen und weiteren Ländern.

Kaum angekommen an Jonas‘ Haus, gehe ich mit einigen Freunden in den Wald. Über eine asphaltierte Vorortstraße geht es in einen lichten Nadelbaumwald mit breiten Wanderwegen. „How many different flowers do we need?“, fragt Côme, ein französischer Ökologie-Student, der seit einigen Monaten als Austauschschüler in Uppsala studiert. „Seven“, sagt jemand. Sieben verschiedene Blumen braucht es für die traditionelle schwedische Flower Crown, dazu Grünzeug, ein paar Äste, um das Ganze zu stabilisieren. Ebenso sollen laut schwedischem Brauch sieben Blumen in der Mittsommernacht unters Kopfkissen gelegt werden. Wer das tut, soll angeblich von der Person träumen, die man irgendwann heiraten wird – zumindest, wenn man nicht zu viel Holunderbranntwein (Hallands Fläder) trinkt. 

Mitnehmen, was der Wald hergibt. Ziel: Eine schöne Blumenkrone. Foto: privat

Während sieben Zwanzig- bis Dreißigjährige sich gegenseitig mit den schönsten Blumen zu übertrumpfen versuchen, die dieser blumenarme Wald hergibt, laufen einige schwedische Spaziergänger*innen vorbei. Sie scheinen von den Englisch sprechenden Studierenden, die mit Sträußen aus Rosen, Butterblumen, Glockenblumen, Giersch, Maiglöckchen und Wald-Storchschnabel nach weiteren bunten Blüten suchen, erheitert zu sein. „Es ist schon 18 Uhr“, sagt jemand und wir treten den Rückweg an. Dann verteilen wir uns an den drei nun mit Grünzeug und und Blumen bedeckten Tischen im Garten. An eine Schere hat niemand gedacht, das erschwert die Kranzkonstruktionen. Aber nach einiger Zeit hat jeder etwas, das zumindest ein wenig nach Blumenkrone aussieht. Wir knipsen Selfies, holen uns Bier, räumen die Tische auf.

Die Schweden können Kuchen

“Can I have your attention, please”, ruft Albin von der Veranda. Die Köpfe aller, die auf dem Gras und an den drei provisorisch aufgestellten Stühlen im Vorgarten sitzen, drehen sich zu ihm. “There’s a lot of people here, and I don’t know if I made enough food, so it’s good to take a little and everyone gets a chance to taste it.” Drinnen steht vor der Küche ein Holztisch, auf ihm fünf verschiedene Arten Hering, Lachs, ein großer Topf mit Kartoffeln, Kartoffelsalat, selbstgebackenes Brot, Västerbotten-Käse inklusive Hobel.

Zwischen Eingangsbereich und Tisch bildet sich eine Schlange. Einer nach dem anderen nehmen die Gäste sich Einweg-Holzbesteck, packen kleine Portionen auf Pappteller und suchen sich einen Platz im Vorgarten. Das Dessert: Erdbeer-Rhabarber-Streuselkuchen, Guiness-Kuchen, noch mehr Kuchen. Wenn Schweden eine Sache besonders gut können, dann Kuchen. Nach dem Essen, gegen 20 Uhr, verteilen sich die Gäste. Einige spielen Vikinger-Schach, andere räumen auf. Nachdem der Garten und die Küche wieder einigermaßen in Stand sind, ist es Zeit für traditionelle Tänze. Vom Haus aus laufen alle durch die Einfamilienhaussiedlung zu einer zehn Minuten entfernten Wiese.

Unser Maibaum ist ein Felsen. Zweieinhalb Meter groß, mitten auf einer Wiese in Uppsala. Dort angekommen, legen viele ihren Blumenkranz auf den riesigen, grauen Stein. Alan, ein französischer Austauschstudent, klettert auf den Felsen, greift sich zwei Kränze, streckt seine Arme aus, hält links und rechts einen Kranz, wird für ein paar Fotos zum lebenden Maibaum. Dann klettert er wieder runter. Wir stehen in einem großen Kreis um den Felsen. Das erste Lied inklusive Tanz ist Små grodona (Die kleinen Frösche). “The words are not so important – just do what I do, and imitate the sounds”, sagt Albin und fängt an zu hüpfen und zu singen. Alle stimmen ein.

Es ist neun Uhr abends, hell, der Himmel pink-blau gefärbt. Eine Meute internationaler Studierender mit festlicher Kleidung singt, hüpft und quakt auf der Wiese. Darauf folgt ein weiteres klassisches Mittsommer-Lied, das zugleich Teil eines Fangen-Spiels ist: Björnen sover. Eine Person legt sich in die Mitte des Kreises, die anderen halten sich an den Händen und besingen den schlafenden Bären. Ist das Lied zu Ende, wacht der schlafende Bär auf und muss eine Person fangen, die auch zum Bär wird. Man spielt, bis es so viele Bären gibt, dass die anderen keinen Kreis mehr um sie herum bilden können.

Party mit Ortswechsel

Nach den Tänzen gehen alle zurück zum Haus. Jonas, der hier wohnt, verkündet, dass wir dort nicht bleiben können, die Party woanders feiern müssen. Schnell ist eine Lösung gefunden: eine WG im Stadtteil Rackarberget. Fast ausschließlich Studierende wohnen hier in drei- bis vierstöckigen Häusern. Rund 30 der 40 Midsommargäste fahren mit Fahrrädern oder gehen die zwei Kilometer zu Fuß. 

Die Dreier-WG im Erdgeschoss füllt sich, die Musikbox landet auf dem Balkon, vor dem rund die Hälfte der Partygäste auf einer Grünfläche anfängt, zu tanzen. Zu Musik aus den 80er- und 90er-Charts: die Nachbarn stimmen ein. Ein angebrochener Dreiliter-Weinkanister wird rumgereicht. 

Erfrischender Plumps ins Wasser. Foto: privat

„Sollen wir schwimmen gehen?“, fragt Thi, meine vietnamesische Mitbewohnerin. Es ist eine warme Sommernacht, nach all dem Tanzen scheint die Idee den meisten zu gefallen. Diejenigen, die mit Fahrrädern zur Rackarbergsgatan gekommen sind, nehmen die Fahrradlosen auf ihren Gepäckträgern mit zur zweieinhalb Kilometer entfernten Idunspången, einer Brücke mit grünem Metallkonstrukt. Dort angekommen, setzen sich einige ins Gras am Ufer. Andere ziehen sich aus – niemand hat an Badekleidung gedacht – und steuern die Brücke an, klettern über den Metallzaun, und springen ins dunkle, tiefe Wasser. Es ist ein Uhr nachts, die Wolken verdecken die tiefstehende Sonne. Einige setzen den Abend noch auf einer Party in Flogsta fort, ich torkele –  begeistert von diesem Abend zwischen Tradition, Internationalität und Spaß – nach Hause. 

Praxis hat eine Schwedenredaktion. Victor Marquardt und Klaudia Lagozinski berichten regelmäßig über das Leben im europäischen Norden. Bei den Midsommar-Festlichkeiten haben beide mitgetrunken. Hier geht es zum Midsommar-Erfahrungsbericht von Victor Marquardt.